K o m p e t e n z t h e o r i e
Gegenstand der Abhandlung
Das Ziel, das ich mir in meinem Buch setze, ist es, allgemein
gesagt, die Konsequenzen zu verfolgen, die für das Verständnis und die
Beurteilung verschiedener Sachverhalte, sowohl vom theoretischen als auch vom
praktischen Charakter - das heißt der philosophischen und der sozialen - die
Auffassung jener Sachverhalte als Ergebnis einer mehr oder weniger zufälligen
Konfiguration solcher Faktoren wie Wissen und Unwissen, Kompetenz und
Inkompetenz, Besitz oder Mangel bestimmter Kenntnisse, Intelligenz und geistige
Trägheit haben kann. Diese Absicht erwächst aus der intellektuellen Erfahrung
eines Menschen, der, jahrelang Kenntnisse auf einem Wissensgebiet anhäufend,
endlich zur Gewissheit kommt, dass wissenschaftliche (bzw. philosophische)
Kompetenz immer etwas Relatives, Fragwürdiges, oft Scheinbares, oder zumindest
etwas Unbeständiges und Instabiles bleibt, was sich auf die Unvollkommenheit des
Gedächtnisses und ungenügende Geistesschärfe zurückführen lässt, sowie auf einen
Mangel an jener synthetisierender Fähigkeit, ausgebaute Begriffszusammenhänge
einheitlich zu erfassen. Gerade dieses jahrelange Ringen mit den Folgen des
eigenen Unwissens und verschiedene Versuche, dieses Unwissen in die Heuresis
eines ordentlichen Betreibens der philosophischen Arbeit „einzukalkulieren“,
oder es sogar perfide zu einem Vorteil des Philosophierens umzukehren, haben
mich auf die Frage unterschiedlicher „Kompetenz- und Inkompetenzstrategien“ und
auf ihre Bedeutsamkeit für das moderne philosophische Selbstbewusstein und für
die Sozialforschung aufmerksam gemacht. In den heutigen Geisteswissenschaften (insbesondere
in der Wissenssoziologie und der Managementwissenschaft) ist natürlich diese
Frage präsent, sie lässt allerdings eine spekulative, philosophische Bearbeitung
vermissen, die die Form einer transzendentalen Kritik verschiedener
epistemischer Ansprüche in verschiedenen Bereichen der menschlichen Rationalität
hätte. Und dies ist eben die Aufgabe, die ich nun in Angriff nehmen möchte. Gut
vorbereitet sind dabei die theoretischen Grundlagen in Gestalt der
philosophischen Heuristik und der spezifischen diskursiven Techniken, die mit
dem metaphilosophisch vermittelten (was weder ausschließlich noch einfach heißen
soll: dem methodischen, reflexiven, kritischen oder selbstbewussten)
Philosophiebetrieb verbunden sind.
Eine wichtige Aufgabe wäre für mich auch, zu ermitteln,
inwieweit ein falsches Urteil über ein Wissen, über verschiedene Fertigkeiten
und Kenntnisse, bzw. die Unmöglichkeit, sich über diese ein glaubwürdiges und
objektives Urteil zu bilden oder die Folgen ihres Defizits einzuschätzen, einen
Faktor darstellt, der soziale Verhältnisse und die diskursive Praxis, darunter
auch philosophische Konzeptionen, mitgestaltet. Ich werde mich auch bemühen zu
zeigen, in welcher Art und Weise ein Unwissen oder ein Mangel an gewissen
Fertigkeiten, bzw. die bloße Einbildung, in einem Bereich kompetent zu sein, das
wissenschaftliche und gesellschaftliche Leben destruktiv oder - im Gegenteil -
stabilisierend beeinflussen kann und inwieweit der scheinbare oder eingebildete
Besitz einer bestimmten Kompetenz zu Innovationen und zur schöpferischen
Tätigkeit von nicht immer niedriger Qualität motiviert. All diese Fragen würden
sowohl in Bezug auf spezifische Bereiche des gesellschaftlichen Lebens behandelt
werden, wie etwa das Hochschulwesen und die Staatspolitik, als auch in Hinsicht
auf das Grundgeflecht der sozialen Gemeinschaft, das heißt in solchen Gebieten
wie Sitte, Sprache und Religion. Meine eigene wissenschaftliche Erfahrung lässt
mich allerdings die Beispiele bevorzugen, die unter philosophischen Ideen der
Geschichte und der Gegenwart zu finden sind. Den methodischen Rahmen der
geplanten Abhandlung, die vielleicht noch sorgfältiger als andere Studien gerade
methodische Fehler und Mängel vermeiden sollte, wird sowohl die Tradition der
philosophischen Reflexion über das Wissen darstellen (das heißt der Reflexion
über dessen Erreichbarkeit, Wert und über gesellschaftliche Folgen des Erwerbs
von Wissen), als auch einschlägige soziologische Theorien. Auf methodische
Fragen komme ich nochmals am Ende der vorliegenden Darlegung zu sprechen.
In meiner Abhandlung, die zum Großteil aus komplexen und tief
reflektierten Diskursen bestehen wird, die für spekulativ und dialektisch
betriebene Philosophie typisch sind, findet sich auch Platz für eine direktere
und einfachere Schicht von Argumenten, Thesen und Postulaten, die dem Ganzen
eine größere Klarheit und Bestimmtheit verleiht. Auf dieser Ebene werde ich mich
bemühen, die Überzeugung zu begründen, dass eine besondere Herausforderung
unserer reif modernen Zeit, die sowohl Diskurse des aufklärerischen
Fortschrittglaubens, Szientismus und der Technokratie, als auch deren
ideologisch engagierte Kritik hinter sich gelassen hat, darin besteht, eine
negative Metakompetenz von theoretischem und gleichzeitig praktischem
Charakter hervorzubringen, die ein Inkompetenz-Management ermöglichen
würde. Eine solche, theoretisch unterbaute Inkompetenzpolitik - z.B. in der
Verwaltung von wissenschaftlichen und anderen Institutionen - wäre kein neues
Programm der Ausnutzung und Allokation vom angehäuften Wissen, wie sie
massenweise besonders in den 60er und 70er Jahren entstanden, sondern vielmehr
ein Programm „der Rationalität des Kompetenzdefizits“, das heißt ein Programm,
das dem Erkennen von Inkompetenz und der Neutralisierung ihrer schädlichen
Folgen (wie auch der Folgen eines tatsächlichen Übermaßes an Kompetenz oder bloß
deren Überschätzung) dienen und auf der anderen Seite zugleich ihre kreative und
stabilisierende Wirkung fördern würde. Zum Grundprinzip der „Inkompetenzpolitik“
sollte eine Einsicht in die Vielfalt der hier verwendeten Strategien werden,
sowie eine gewisse Elastizität, die dieser Politik ermöglichen würde, sich den
Bedürfnissen des jeweiligen Bereichs (wie etwa der Wissenschaft, der Politik
oder der Wirtschaft) anzupassen. Es sollte ihr auch ein weitgehender
Selbst-Kritizismus eigen sein, der sie ihre Möglichkeiten und selbst ihre
Fähigkeit, ihre eigenen Aufgaben allgemeingültig zu bestimmen, richtig
einschätzen ließe. Eine Besonderheit der kommunikativen Situation, mit der wir
es beim Inkompetenzmanagement zu tun haben, und zwar unabhängig davon, ob es die
Aufgabe eines Beamten, eines Managers oder eines Lehrers sein sollte, ist
nämlich, dass der Inkompetenz-„Stratege“ oder -„Politiker“ unmöglich als
gewöhnlicher Experte auftreten darf, der fähig wäre, die Kompetenz (oder
Inkompetenz) anderer zu beurteilen, sondern als einer, der vielmehr dazu berufen
ist, immer wieder den „Stand des Unwissens“ (auch seines eigenen!) und die
Kontroverse darüber zu rekapitulieren, was eigentlich als Wissen und Kompetenz
anzusehen ist. Es ist keineswegs nur eine Art Multiplikation bestimmter
demokratischer Prozeduren, die das Funktionieren einer rationalen kommunikativen
Gemeinschaft verbessern, sondern der Ausdruck einer skeptischen Offenheit, die
der heutigen Kompetenz- und Selbstbewusstseinskrise Rechnung trägt. Diese Krise
erfasst die gesamte Maschinerie der Kompetenzerzeugung. Es ist jene Offenheit,
die auch eine intellektuelle und moralische Kraft zum Reformieren all dessen
gibt, was innerhalb dieser Maschinerie als unantastbare Grundlage ihrer
Tätigkeit, als „transzendentale Bedingungen“ ihres Funktionierens gilt, wie etwa
der institutionell-methodischen Infrastruktur der Wissenschaft oder kritischer
Standards des historischen Bewusstseins bzw. der politischen Unparteilichkeit.
In einer Gesellschaft, in der der Technokrat oder der Beamte ein „Inkompetenzpolitiker“
wird, und zwar im selben Maß, in dem er dennoch auch ein „Experte“ bleibt,
werden möglicherweise wirkliche Voraussetzungen dafür entstehen, dass
Institutionen des Wissens und der Macht eine reale Fähigkeit gewinnen, sich
Selbstbeschränkung aufzuerlegen. Die Entwicklung verschiedener „Inkompetenzstrategien“
scheint mir eine der größten intellektuellen und politischen Herausforderungen
unserer Zeit, eine Herausforderung, die umso wichtiger wird, je gewaltiger die
technischen Mittel werden, mit denen das von Natur- Geistes- und
Gesellschaftswissenschaften angehäufte Wissen verschiedene soziale Formen
der Macht ausstattet.
Grundriss des Projekts einer philosophischen Heuristik
Wie ich es schon erwähnt habe, wäre das geplante Buch der
dritte Teil eins Zyklus, in dem ich ein etwas weiter angelegtes theoretisches
Programm einleitend formuliere. Die zwei ersteren trugen die Titel
Philosophische Heuristik (1997) und Techniken der Metaphilosophie
(2001). Beide hatten ausschließlich einen streng philosophischen Charakter. Ihr
Ziel war die Erarbeitung einer Grundkonzeption von solchen Reformen des
philosophischen Selbstbewusstseins, die dieses Selbstbewusstsein dermaßen ändern
könnten, dass es sich von einem System konkurrierender Artikulationen jenes
großen menschlichen Unternehmens, das die Erkenntnisgewinnung (in der
Wissenschaft oder Philosophie) darstellt, zur derartigen, regelmäßigen Praxis
des Philosophiebetriebes verwandeln würde, die es möglich machte, aus der
gesamten Vielfalt historisch erarbeiteten hochreflexiven philosophischen
Projekten zu schöpfen. Es sind hier vor allem Projekte gemeint, die jeglicher
Reflexion über philosophische Fragen ein Nachdenken über verschiedene
Bedingungen der Möglichkeit ihrer Formulierung und Erwägung vorangehen lassen.
Im ersten der genannten Bücher habe ich verschiedene
theoretische Projekte der zeitgenössischen Philosophie besprochen, denen eine „heuristische
Refleksivität“ zugrunde liegt, das heißt das Bewusstsein, dass eine ernsthafte
Philosophie nicht nur eine Theorie ihres Gegenstandes - der Welt, der
menschlichen Erfahrung und des Wissens - sondern auch eine Theorie ihrer selbst
sein soll: ein Wissen über Grundlagen und Grenzen ihrer eigenen Gültigkeit, über
konstitutive Quellen ihrer eigenen Begriffe, über das Wesen des
Erkenntnisvermögens, der Theoriebildung und des Philosophiebetriebes schlechthin.
Zu solchen Projekten gehören vor allem die „Metawissenschaft“ (z.B. die
Methodologie der Wissenschaften), die transzendentale Theorie des Wissens, der
Pragmatismus, die Hermeneutik, der Strukturalismus und der Neostrukturalismus.
Trotz ihrer konkurrierenden Monopolansprüche auf dem Gebiet der
verallgemeinernden heuristischen Reflexion, das heißt der Ansprüche darauf, als
die höchste und allein adäquate Gestalt des philosophischen Selbstbewusstseins
angesehen zu werden, war ich beim Besprechen all dieser Denkrichtungen ständig
darum bemüht, die Identität ihrer Intentionen und ihre gegenseitige
Komplementarität ans Wort kommen zu lassen. Mein Anliegen war dabei die
Erarbeitung wenn nicht einer theoretische Synthese, die die Ergebnisse von
verschiedenen, jeweils einen Absolutheitsanspruch erhebenden Programmen der
reflexiven Philosophie in sich vereinigen würde, so doch immerhin eines
einheitlichen Stils des Philosophiebetriebes, eines Stils, in dem man eine
beschränkte Loyalität gegenüber verschiedenen philosophischen Programmen wahrt,
ohne die Fähigkeit zu verlieren, sich auch andere zunutze zu machen. (Diesen
Stil nenne ich eben „philosophische Heuristik“ oder „metaphilosophisch
vermittelten Philosophiebetrieb“.) In der philosophischen Heuristik
verwandelt sich der gewöhnliche Synkretismus oder die übliche Praxis, auch einen
„Überblick über die Philosophiegeschichte“ zu bieten, in eine systematische, mit
eigenen Begriffswerkzeugen und Techniken ausgestattete
Philosophiekennerschaft, die nicht bloße Gelehrsamkeit ist, sondern auch
eine Fähigkeit, Philosophie unter ständiger Rücksichtnahme auf die
Formenvielfalt ihres Selbstbewusstseins und auf die Vielfalt von Gestalten zu
betreiben, die der Zusammenhang zwischen der Reflexion über philosophische
Fragen (und ihren Ergebnissen) und dem Nachdenken über die Grundlagen dieser
Reflexion selbst annimmt. Die Frage der Kompetenz, oder eigentlich der
Inkompetenz, die sich in einer gewissen Einseitigkeit bzw. in der mangelnden
Widerstandsfähigkeit gegenüber der verführerischen Macht verabsolutierter
Begriffe (wie „Leben“, Sprache“, „Methode“, „Praxis“ usw.) äußert, gehört zu den
zentralen Gegenständen einer geordneten heuristischen Reflexion. Wie kann man
ein Philosoph und Philosophiekenner sein, der einen Anspruch auf Besitz
besonders weiter geistiger Horizonte sowie auf Flexibilität und Offenheit im
Gebrauch von begrifflichen und diskursiven Beständen der Philosophie erhebt,
mehr noch: ein Philosoph, der eine Theorie eines solchen Philosophiebetriebs (also
eine philosophische Heuristik) konstruiert, wenn man gleichzeitig zur
Einseitigkeit und Eingeschränktheit verurteilt bleibt, die sich aus einem
Defizit an Wissen, Intelligenz und Gedächtnis ergeben?
Diskursive Techniken, die im zweiten der genannten Bücher -
Techniken der Metaphilosophie - erstellt worden sind, dienen eben in
hohem Maße einer Kompensierung der Inkompetenz im Philosophiebetrieb. Es sind
nämlich komplexe Methoden der philosophischen Analyse, die einen hohen
autodidaktischen Wert besitzen, indem sie einen effektiven Philosophiebetrieb
ermöglichen, und zwar durch eine ständige Projizierung philosophischer Probleme
auf einen Plan, dessen Grenzen durch solche Fragen bestimmt sind, wie: „was
lässt sich zu einem gegebenen Thema überhaupt sagen?“, „welche Richtungen und
Methoden der Analyse sind in diesem Fall zugänglich?“, „welche theoretische
Situation und welcher Wissensstand liegen einer bestimmten Fragestellung
zugrunde?“, „welche Möglichkeiten, den Gegenstand zu problematisieren, liegen
vor und wie sie ihn mit konstituieren?“ usw. In meinem Buch Techniken der
Metaphilosophie habe ich auf einige Vorteile hingewiesen, die ein neues
theoretisches Werkzeug bietet, das heißt die von mir eingeführte ultraabstrakte
und deshalb gänzlich instrumentelle (im ontologischen Sinne fiktive) Kategorie
Neutrum. Das Neutrum wird nicht definiert, es bleibt vielmehr der
permanente Gegenstand der Frage: „Was ist das?“. Alle Antworten, grundsätzlich
ungenügend, weisen über sich selbst hinaus, auf immer neue Bestimmungen, die
sich zu Serien aneinanderreihen, je nach dem Prinzip dieses
Über-sich-selbst-Hinausweisens, das heißt des Verweisens auf weitere
Bestimmungen. Gerade das Resultat, das in der Findung oft unerwarteter
Zusammenhänge zwischen Begriffen besteht - wobei sich diese Begriffe als
Bestimmungen, Ausdrücke oder „Modi“ von grundsätzlich Demselben, das ist dem
Neutrum erweisen - hat jenen erstrebten autodidaktischen Wert, indem es den
diskursiven Horizont und das Bewusstsein der Begriffszusammenhänge in der
Philosophie außerordentlich erweitert. Eine typische Serie von
Neutrum-Bestimmungen ist z.B. jene, in der man mit einzelnen Schlüsselbegriffen,
um die herum sich verschiedene philosophische Theorien mit
Absolutheitsansprüchen organisieren, beginnt, um dann eine ganze Reihe von
anderen Begriffen zu konstituieren und dadurch eine begriffliche Struktur zu
veranschaulichen, die die Gesamtheit „der philosophischen Fundamentalkategorien“
zu einem Ganzen verbindet. So kann man z.B. mit dem Begriff „Substanz“ beginnen
(„das Neutrum ist Substanz als Fundamentalkategorie der Metaphysik“), dann zum
Subjektbegriff übergehen („in Wahrheit ist das Neutrum ein Subjektbegriff, denn
Substanz ist in Wirklichkeit etwas, was für sich selbst ein Subjekt ist“), um
dann zu den Begriffen „der reinen Identität mit sich selbst“, „der absoluten
Einheit“, „des Absoluten“ usw. zu gelangen. Eine andere Serie hat einen „methodologischen“
Charakter. Wir beginnen z.B. mit der Feststellung: „Beim Begriff des Neutrums
handelt es sich einfach um den verallgemeinerten Begriff der zentralen
Begriffskategorie einer beliebigen philosophischen Theorie“. Dann gehen wir
z.B. zur Vorstellung des Neutrums als „einer regulativen Idee, die den Diskurs
organisiert“, „eines allgemeinen Begriffs des theoretischen Grundsatzes, der die
Spezifik eines philosophischen Diskurses bestimmt“ usw. Mit der Erstellung und
Analyse einer Serie von Neutrum-Bestimmungen, die immer im Horizont einer
eigenartigen (und jeweils von neuem zu überwindenden) Illusion entstehen, dass „man
nun endlich darauf zu sprechen kommt, was jenes Neutrum in Wahrheit ist“,
verbindet sich eine ganze Reihe sehr instruktiver analytischer Techniken, die
die metaphilosophische (heuristische) Orientierung, das heißt die Kenntnis von
begrifflichen und diskursiven Beständen der Philosophie außerordentlich
erweitern. Damit ist in einem gewissen Sinne das ganze Projekt der Techniken
der Metaphilosophie dem Vorsatz untergeordnet, den Zusammenstoß von
Inkompetenz und Kompetenz zu problematisieren, und zwar sowohl in der
Philosophie überhaupt, als auch in der jeweiligen Praxis ihres Betreibens durch
ein individuelles Ich.
Dialektik von Kompetenz und Inkompetenz
Ich will erstens mich einer der Fragen zuwenden, die das
gesamte Projekt der Kompetenztheorie eröffnen, und zwar der Bestimmung des
Bereichs, in dem wir es mit dem dialektischen Verhältnis von Kompetenz und
Inkompetenz zu tun haben. Unter Kompetenz verstehe ich hier aller Art Wissen,
Kenntnisse, Begabungen, Fähigkeiten, Tugenden, Erfahrung, sowie soziale und
Rechtsbefugnisse, von denen ein Individuum meint, sie seien eine genügende
Voraussetzung für eine freie - effektive oder gar schöpferische -
Subjekttätigkeit. Kompetenz ist somit alles, was den Beamten zu gewissen
Entscheidungen, den Professor zum Lehren, den Geistlichen zum Moralpredigen, den
Handwerker zum Treiben seines Gewerbes, den Künstler zum künstlerischen Schaffen
usw. „befugt“. So verstandene Kompetenz ist immer etwas, Fragliches und
Zweifelhaftes, Partielles und mit einem Anmaßungsmoment oder mit einer
Selbstüberschätzung Behaftetes, die übrigens jene freie Subjekttätigkeit erst
auslösen kann. Deshalb umfasst die komplette Struktur der Subjektaktivität, mit
der wir es hier zu tun haben, zwei einander entgegengesetzte und komplementäre
Momente: Kompetenz und Inkompetenz. Dabei ist Kompetenz nur eine eingebildete,
Inkompetenz hingegen eine unbewusste. Wenn man sich ihrer doch bewusst wird,
betritt man einen Weg, der zur „Wiedergewinnung seiner selbst“ in einer endlich
kompetenten Tätigkeit führt. In jedem Lebensbereich kann man Beispiele einer
bedauernswerten Inkompetenz finden, die allerdings gleichzeitig insoweit eine
Art Kompetenz sind, als das inkompetente Subjekt sich aufgrund des Wissens, der
Vorstellungen und Motivationen, die ihm zu Gebote stehen, doch zum Handeln
befugt fühlt. Damit ist in jedem Gebiet die Bereitschaft gegeben, die Ignoranz
oder gewisse moralische Mängel zu dulden (nach dem Prinzip: wenn die Inkompetenz
unvermeidlich, die Kompetenz* hingegen immer nur scheinbar oder vorgetäuscht ist,
warum sollte ich diese für mich nicht beanspruchen und daraus Nutzen ziehen?).
Vorstellbar ist allerdings eine Haltung, die die eigene Inkompetenz desavouiert
(nach dem Prinzip: wenn die Kompetenz immer bis zu einem gewissen Grade nur ein
Schein bleibt, so ist es doch besser, eine kritische Kompetenz an den Tag zu
legen und aus der eigenen, irgendwie interpretierten Inkompetenz keinen Hehl zu
machen, als sich dieser Täuschung mit schlichter Naivität oder berechnender
Verantwortungslosigkeit hinzugeben). Möglich ist aber auch und es kommt, hoffen
wir, oft vor, dass das Verhältnis zu seiner Inkompetenz und seinen Wissenslücken
intellektuell und moralisch gesund sowie durch eine Redlichkeit, Einsicht und
einen Besserungswillen gekennzeichnet ist. Soziale und diskursive Bedingungen
des Geisteslebens, auch im Hochschulwesen, sind allerdings einer vollen
Offenheit und Redlichkeit in solchen Sachen nicht gerade förderlich.
Um den Wirkungskreis dieser durch verschiedene Formen der
Kompetenz-Inkompetenz-Opposition gestalteten Motivationsverhältnisse im freien
Subjekthandeln zu veranschaulichen, nenne ich hier einige Bereiche, in denen sie
im akademischen Betrieb sowie im sozialen Leben und der Politik zur Erscheinung
kommen.
I. Im akademischen Betrieb, der Forschungen,
Veröffentlichungen und die Didaktik sowie soziale Interaktionen von
Wissenschaftlern (Popularisierung, Beratung und Expertentätigkeit) umfasst,
haben wir es mit folgenden Erscheinungsformen der Dialektik von Kompetenz und
Inkompetenz zu tun:
- Der Imperativ und die Unmöglichkeit von Kennerschaft. Die
Wissenschaft erhebt einen selbstverständlichen Anspruch darauf, dass ihre
Vertreter über ein möglichst umfangreiches Wissen verfügen und in ihrem
Fachbereich möglichst kompetent sind. In der Praxis können sie freilich solchen
Anforderungen kaum genügen, das heißt die Durchschnittlichen sind außerstande,
das Niveau der Weltbesten zu erreichen, geschweige denn immer mit „dem
gegenwärtigen Wissenstand“ Schritt zu halten, weil der zu beherrschende
Wissensstoff und der zu überblickende Forschungsstand zu umfangreich, das
menschliche Gedächtnis hingegen zu schwach sind. Deshalb wird ihr Wissen
einerseits in die sogenannte Gelehrsamkeit aufgelöst (im Sinne einer
dialektischen Auflösung), eine teils moralische, teils rhetorische Qualität, die
man nicht einmal zu messen versucht, andererseits überträgt man das Wesen der
wissenschaftlichen Kompetenz von der Ebene des faktischen Wissens (der
Forschungsergebnisse) auf die bloßer Erkenntnisdispositionen und -kräfte. So
wird die Kompetenz bloße Fähigkeit, wissenschaftliche Forschungen und
Diskussionen zu führen, eine Kompetenz im Bereich der wissenschaftlichen
Methodik. Die Erhebung des Wissens zu einem selbständigen Subjekt wird im
individuellen Ich des Forschers mit der Zeit immer illusorischer, wiewohl das
akademische System absolut unfähig bleibt, diese Tatsache auch offen
einzugestehen und ihr durch Erarbeitung irgendeiner „Inkompetenzpolitik“
Rechnung zu tragen. So wird ein geschicktes Vortäuschen der Kompetenz zu einer
unentbehrlichen Qualität des Wissenschaftlers. Er muss den Eindruck entstehen
lassen, dass er mehr weiß und im Gedächtnis angehäuft hat, als dies in
Wirklichkeit der Fall ist. Die Diskrepanz zwischen den offiziell an
Wissenschaftler gestellten Anforderungen (etwa bei Beförderungen) und den
tatsächlichen Möglichkeiten realer Teilnehmer am wissenschaftlichen Betrieb wird
offensichtlich, trotzdem übersieht man sie nur zu gern. Die Tabuisierung der
Kompetenzfrage führt zu einer Situation, in der keiner sich zu rufen traut: „Der
Kaiser ist nackt“, da jeder fürchtet, in der akademischen Welt der einzige zu
sein, der über ein so bescheidenes Wissen, eine so lückenhafte Allgemeinbildung
und so spärliche Sprachkenntnisse verfügt, während alle anderen - wie könnte
sonst die gesamte Wissenschaft fortbestehen? - sicherlich viel mehr wissen.
- Die Dialektik von Kompetenz und Inkompetenz macht sich auch
im Bereich der Hochschuldidaktik bemerkbar. Die in der akademischen Welt
herrschende Unaufrichtigkeit und die Ungewissheit, worauf sich einer wirklich
versteht und worauf er sich verstehen sollte, überträgt sich auf den Lehrbetrieb.
Die Vermassung des Hochschulstudiums einerseits und der Umfang des zugänglichen
Wissens in verschiedenen Fächern andererseits bewirken, dass das Studium
aufgehört hat, eine Vorbereitung für selbständiges Betreiben der gewählten
Disziplin oder für professionelle Ausnutzung von Beständen einer Wissenschaft zu
sein. Das Studium kann bestenfalls lediglich eine allgemeine Propädeutik zu
einer Fachrichtung oder nur eine Einführung in deren Geschichte sein. Die
Universität ist allerdings noch weit davon entfernt, diesen Sachverhalt
einzuräumen, was nicht selten schwerwiegende Folgen haben kann, wie etwa das
Unvermögen vieler Hochschulabsolventen, ihre eigenen Möglichkeiten richtig
einzuschätzen (dies betrifft besonders Medizin, wobei dieses Problem eine große
Bedeutung in der Bioethik hat, mit der ich mich übrigens auch befasse). Eine
Lösung der Inkompetenz-Frage auf dem Gebiet des Hochschulstudiums wird durch ein
verschwommenes anthropologisches Gebilde, genannt „Berufserfahrung“, geliefert.
Diese soll nämlich Wissenslücken aus der Studienzeit füllen und ausgleichen,
ähnlich wie der nie endende Prozess der Weiterbildung in verschiedenen Kursen
und Lehrgängen.
- Eine besonders sublimierte Erscheinungsform der Dialektik
von Kompetenz und Inkompetenz sind Binaritäten, nach denen sich der akademische
Betrieb formiert, besonders in den Geisteswissenschaften und in der Philosophie.
Es sind Binaritäten, die von der Hermeneutik registriert werden und die
gleichzeitig in der „späten Neuzeit“ die Hermeneutik zum Rang eines
transzendentalen Selbstbewusstseins der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften
erhoben haben: Klassiker und (zeitgenössische) Gelehrte, klassische und
Hilfsquellen (zeitgenössische Fachliteratur), große Begründer von neuen
Konzeptionen und Scharen von ihren akademischen Kommentatoren. Im Prinzip ist
die gesamte Klassik nur eine Ansammlung von Texten. Deshalb nimmt ihre Macht
über unser Bewusstsein die Gestalt einer Herrschaft von ehrwürdigen Ideen an und
wird wiederum durch ihre vollständige administrative Ohnmacht aufgehoben wird.
Historiker (z.B. der Philosophie) sind gleichsam Vertreter jener textlichen
Wirklichkeit in der realen Welt der Wissenschaft, sie sind Hüter der Tradition
und in einem gewissen Sinne Sprecher der Klassiker, die durch sie ihre Autorität
ausüben können. Auf der anderen Seite legitimieren Klassiker, zusammen mit ihren
Vertretern, auch die zeitgenössische Realität der Wissenschaft (als eine im
Genius der Tradition verwurzelte), wobei sie ihr aber einen etwas zweideutigen
Charakter des professionellen Epigonentums verleihen, was wiederum durch das
Vorhandensein von vermeintlichen zeitgenössischen Nachfolgern längst
verstorbener Autoritäten ausgeglichen werden soll, das heißt von populären und
originalen Autoren, die sich eines hohen Ansehens bei einem weiten Publikum
erfreuen und sich das Recht erkämpft haben, groß angelegte Synthesen und
Visionen bzw. eigene individuelle in neuer Terminologie vorgetragene Konzepte
ausarbeiten zu dürfen - und zwar ohne Risiko, misstrauisch oder ironisch
behandelt zu werden.
- Eine spektakuläre Form des Kompetenzantagonismus bringen in
der Wissenschaft Beziehungen zwischen einzelnen Disziplinen hervor, insbesondere
die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sowie zwischen der Philosophie
und der übrigen akademischen Welt. Die gegenseitige (oft vollständige)
Unkenntnis anderer Disziplinen als die eigene führt nicht nur zu einem
gegenseitigen Naivitätsvorwurf, einer realen und sofort erkennbaren Inkompetenz,
die selbst prominenteste Vertreter einer Wissenschaft auf dem Boden einer
anderen - und zwar einer, deren Erkenntnisansprüche sich mit denen anderer
Wissenschaften kreuzen - zeigen, sondern ist auch mitunter die Voraussetzung für
die Existenz mancher Disziplinen, oder zumindest gewisser Forschungsrichtungen
bzw. Theorien. Äußerst dramatisch scheint das Verhältnis (oder vielmehr das
Fehlen jeglicher Beziehungen) zwischen Ontologie und Physik, besonders wenn man
den Unterschied im Prestige bedenkt, dessen sich die Vertreter der beiden
Disziplinen erfreuen. Die gleichen antagonistischen Verhältnisse, begleitetet
durch eine tiefe gegenseitige Unkenntnis, bestehen auch zwischen einzelnen
Fachrichtungen innerhalb ein und derselben Wissenschaft. In der Philosophie
sieht man dies an dem ziemlich heftigen Widerstreit zwischen der sogenannten
analytischen Philosophie und all dem, wie man es auch nennen würde, was es nicht
ist. Dieses bedrückende Unwissen, die Unkenntnis von Konzeptionen, Begriffen und
Terminen, in denen man seit langem schon das erfasst, was woanders - in einer
anderen Disziplin oder auch nur einer anderen Schule - als die neueste und
originale Erfindung gefeiert wird, sollte uns eigentlich beschämen. Eben auf
diese Weise entstehen aber von keinem tiefen wissenschaftlichen Bewusstsein
belastete, doch gleichzeitig dank gerade dieser Einfalt natürliche und
wirklichkeitsnahe Konzeptionen, die allerdings, ihr eigenes Leben lebend, zu
Ergebnissen führen, die über alles schon Vorhandene hinausgehen. Dabei muss man
zugestehen, dass es gar keine Chance besteht, auch nur in seinem eigenen
Fachbereich - es sei denn, man engt diesen auf lächerliche Dimensionen ein - auf
dem laufenden zu bleiben. Während es noch vor einhundert Jahren in der
Philosophie möglich war, sich einen allgemeinen Überblick über ihre Geschichte
und ihren gegenwärtigen Zustand zu verschaffen, ist dies heute, wenn man bedenkt,
dass die meisten Philosophen, die je diese Welt bevölkerten, eben im vergangenen
Jahrhundert lebten, völlig ausgeschlossen. Wenn nun die Anzahl von Philosophen
jetzt viele Male so groß ist wie in den Generationen Kants und Hegels, so muss
es auch irgendwo gleich kreative und weise Denker wie jene geben. Wir vermögen
aber diese zeitgenössischen Kants und Hegels nicht zu identifizieren, da sie,
zum ersten, in Scharen vorkommen können, wir hingegen, zum zweiten, außerstande
sind, unsere Aufmerksamkeit zur gleichen Zeit auf Lima, Kapstadt, Bukarest,
Schanghai, Königsberg und Hunderte von anderen Orten zu lenken , wo man nach
ihnen genauso gut suchen kann. Keiner kann heute behaupten, er wüsste, „was in
der Weltphilosophie geschieht“.
II. In der Gesellschaft kommt die Dialektik von Kompetenz und
Inkompetenz spektakulär und auf verschiedene Weisen zum Vorschein.
- Der Vorrang gebührt sicherlich der Frage der politischen
Kompetenz von Bürgern, die an dem nach demokratischen Prinzipien gestalteten
öffentlichen Leben teilnehmen. In Ländern von einem niedrigen Bildungsniveau und
einer niedrigen politischen Kultur, da heißt dort, wo die Demokratie zwar alle
erforderlichen Rechtsformen angenommen hat, immer noch aber in Haltungen und
Kompetenzen der Bürger selbst nicht richtig verwurzelt ist, bringen die freien
Wahlen oft rücksichtsloseste Populisten oder gar Kriminelle an die Macht. Die
Unfähigkeit der meisten Menschen, eine rationale und moralisch kompetente
politische Wahl zu treffen, ist jedoch im öffentlichen Leben demokratischer
Länder ein Tabu. Wer an diesem Tabu rühren möchte, riskiert eine Gefährdung
derjenigen demokratischen Strukturen, die schon in seinem Land bestehen.
Zeitgenössische Gesellschaften sind allerdings in der Wahrung der Rechte und der
Würde des Einzelnen so weit fortgeschritt
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