Philosophie an den Ufern der Oder und der Weichsel
[aus Zietschrift fuer Philosophie 1999]
Der idyllische Titel dieses Artikels (möge er von Ihnen bis zum Ende gelesen
werden), entspricht der Gemütsverfassung des Autors, mit der er an diesen (oben
erwähnten) fernen Ufern sich an seine Aufgabe macht. Mit dem Auftrag der
regelmäßigen Korrespondenzen von Redaktion der Zeitschrift für Philosophie
beehrt, freue ich mich auf die Aussicht, vor den deutschsprachigen Lesern
für und über die polnische Philosophie sprechen zu dürfen.
Bekanntlich gehört es zur Beschaffenheit der polnischen Philosophie, daß sie
über die Grenzen Polens hinaus so gut wie unbekannt ist. Ich möchte folglich
meine Ausführungen mit der Nennung der Tatsachen beginnen, die ein polnischer
Philosoph die Welt würde gerne wissen lassen. Vor allem also mit dem hier oft
wiederholten Satz: „Wir sind nicht schlechter“. Und in Polen heißt dies
vor allem: wir sind nicht schlechter als die Deutschen. Diese schwer zu
akzeptierende Uberzeugung ist fast wahr - das durschschnittliche Niveau
der akademischen Produktion in Polen weicht im Bereich der Philosophie von dem
deutschen nicht groß ab. Der Unterschied liegt erstens (nur!) darin, daß wir
hierzulande im Gegensatz zu Deutschland keine Philosophen haben, die für die
Geschichte der Philosophie des 20. und 21. Jh.s. heutzutage relevant wären.
Zweitens liegt die untere Grenze für die Druckaufnahme der Texte, die noch zur
akademischen Produktion gerechnet werden, in Polen wohl tiefer als in den
deutschsprachigen Ländern. Im Durschschnitt ist jedoch die polnische Philosophie
kongenial mit der deutschen. Und nicht unbedeutend ist auch die Tatsache, daß
sie ihren wichtigen Einflußbereich bildet. Sowohl hinsichtlich der formalen: der
akademischen Kriterien, des aktzeptierten Arbeitsstils, der universitären
Verhältnisse und teilweise der akademischen Terminologie, als auch hinsichtlich
der inhaltlichen Seite. Damit meine ich, daß sich sowohl hinsichtlich einer
typischen philosophischen Ausbildung, der behandelten Problemstellungen und der
angewandten Begrifflichkeit die polnische Philosophie der im deutschen
Sprachbereich betriebenen als ähnlich erweist. Zwar schauen fast genauso viele
polnische Philosophiedozenten in Richtung Großbritannien und Amerika, wie in
Richtung Deutschland, aber entspricht dies nicht der Lage in Deutschland selbst.
Daß wir nicht schlechter sind, habe ich schon eingangs behauptet. Auch an der
Zahl sind wir gar nicht so klein. Es gibt in Polen fast 40 Millionen Philosophen,
von denen 1300 das Amt eines Universitätsdozenten innehaben. Die ohnehin
beachtenswerte Schar der Berufsphilosophen bevölkert fast zur Hälfte
Philosophieinstitute eines Dutzends von Universitäten, und die größten unter
ihnen zählen ca.50-90 Mitarbeiter. Diese produzieren jährlich an 300
philosophische Bücher und etwa genausoviel Übersetzungen. Sie geben einige ganz
ordentliche philosophische Zeitschriften heraus, nehmen etwa 60 Doktorwürden und
20 Habilitationen an, organisieren -zig Konferenzen und lehren 4000 Studenten
der Philosophie im Hauptfachstudium, beschäftigen sich mit allen erdenklichen
Dingen (philosophischer und sonstiger Natur). Wem diese Angaben dubios vorkommen,
möge auf das 1995 herausgegebene Directory of Polish Philosophy
zurückgreifen (472 Seiten an Biogrammen, Bibliographien, Indices usw.)
oder auf unsere polnische Variante der Information Philosophie, d.h.
Principia - Ekspres Filozoficzny (auch im Internet: www.psf.alpha.net.pl.).
Sollten Sie sich daran interessiert zeigen, wieviele von den genannten
einigermaßen über Kant, Hegel und Husserl informiert sind, kann ich Ihnen stolz
mitteilen, daß die Forschungen zur deutschen Philosophie und das Philosophieren
im Anschluß an die deutsche Tradition in Polen den Schwerpunkt von ca. 50
Wissenschaftlern bildet. Darunter befinden sich über zehn (ehemalige)
Stipendiaten der Humboldt- Stiftung. Einer unter diesen Philosophen kann mit
vollem Recht zu den hervorragendsten Autoritäten in Sachen der Philosophie von
Kant bis Hegel gezählt werden, nämlich Marek Siemek aus Warschau, der den
deutschen Lesern als Autor descunlängst in ihrem Land erschienenen Buches
Transzendentalismus bei Fichte und Kant bekannt ist. Der wahren Beliebtheit
erfreuen sich im Bereich der deutschen Philosophie jedoch eigentlich Heidegger
und Nietzsche. Die Anhänger des letzteren gehen allerdings auf die französische
Seite über (von wo sie dann mit der Kenntnis Hegels zurückkommen). Die Lektüre
Marx’ findet nicht mehr statt, seinen Platz hat Freud übergenommen.
Ihren eventuellem Verdacht, daß der Zustand der polnischen Philosophie als „postkommunistisch“,
also demnjenigen in der ehemaligen DDR analog, zu bezeichnen ist eile ich
vorzugreifen. Es ist nicht so. Der, Amts wegen, verordnerte Marxismus war in
Polen nie besonders stark, hatte immer einen Fassadencharakter, so wurde sein
Wegfall im Bereich der Wissenschaft kaum wahrgenommen. Es ist einfach so, daß
Einige, die bisher besonders gern Marx zitiert haben, heute andere Autoren
zitieren, Einige sind heute pensioniert, und Einige Andere haben auberhalb der Wissenschaft ihren Abeitsplatz
gefunden. Außerhalb von Breslau gab es kein Erdbeben in Sachen
Mitarbeiterpolitik. Es gab auch keine „Abwicklung“, weil die politischen Untaten
der „roten Philosophen“ in den siebziger und achtziger Jahren auch nicht so
gravierend und zahlreich waren. Ja, Einer hat einen anderen im Kriegszustand aus
der Arbeit entlassen, wieder jemand hat jemandes Professurverfahren blockiert
usw. Dies alles bleibt heute mehr im Bereich der persönlichen
Auseinandersetzungen und niemand besteht auf öffentlichen Gerichtsverhandlungen.
Ja, jedes Institut hatte seine Marxisten - meist waren sie jedoch nicht so
gefährlich und gleichsam auf dies solche eher harmlose Rolle trainiert (unter
größeren Instituten waren nur Kattowitz und Breslau sehr rot). Ja, überall gab
es die Partei, die in den Entscheidungen über Aufstiegs- und
Veröffentlichungsmöglichkeiten entschied. Jedoch war die polnische Philosophie
von den alt-ehrwürdigen Professoren geleteit, deren wissenschaftliche Laufbahn
vor dem Zweiten Weltkrieg begann, die mit den Machenschaften des Regimes nichts
zu tun hatten und die - wie auch ihre zahlreichen Schüler - möglichst weit von
Marxismus standen und trotzdem von dem Regime respektiert und nur in den Zeiten
der politischen Krisen unterdrückt wurden. Die letzte dieser Krisen - das
merk-würdige Jahr 1968 (in dem fast die gesamte Warschauer Philosophie fast
zerstreut wurde und viele ausgezeichnete polnische Wissenschaftler ins Ausland
mußten). Es war ein harter Schlag für die hiesige Wissenschaft, jedoch tragen
paradoxerweise die damals emigrierten Wissenschaftler, die dann im Westen
bekannt wurden zum Bekanntheitsgrad der polnischen Philosophie bei. Dies
betrifft natürlich auch die emigrierten Philosophen und überhaupt
Geisteswissenschaftler, unter denen Leszek Kołakowski
am berühmtesten ist, auch Krzysztof Pomian, Bronisław Baczko, Zygmunt Bauman. Berühmt wurden
übrigens auch frühere Emigranten, wie Józef
Bocheński und vor allem Alfred Tarski. Im
Moment sind in der Welt zwischen zehn und zwanzig polnische Philosophen tätig.
Wie bereits erwähnt, waren in der Nachkriegszeit die Vorkriegs-Professoren
die Leitgarde der polnischen Philosophie. Sie sind nun nicht mehr da und ihre
Schüler (die NICHT immer das Werk der ersteren in treuer Nachfolge fortführen)
sind bald im Pensionsalter. Unter diesen berühmten Gestalten, die trotz des
Ablebens gleichsam geistig immer noch einige philosophische Zentren hierzulande
betreuen sind vor allem Roman Ingarden (Krakau), Kazimierz Ajdukiewicz (Warschau,
Posen), Tadeusz Kotarbiski (Warschau), Władysław Tatarkiewicz (Warschau), Henryk Elzenberg (Thorn)
zu nennen. Unter den herausragendsten Leistungen von Roman Ingarden, der zu den
besten Schülern Husserls gehört, sind zu nennen sowohl die in Der Streit über
die Existenz der Welt, einem der wichtigsten Texte der polnischen
Philosophie im 20. Jh überhaupt, begründete sehr präzise phänomeologische
Ontologie, als auch die weltberühmte Theorie des literarischn Kunstwerks (Das
literarische Kunstwerk). Ajdukiewicz und Kotarbiński waren Angehörige der bekannten
Lemberger-Warschauer Schule (begründet in Lemberg 1895 von Kazimierz Twardowski,
einem Schüler Brentanos), die zusammen mit der polnischen Mathematiklogik,
kongenial-komplementär zu dem Wiener Kreis und der frühen analytischen
Philosophie in England, eine philosophische Erscheinung ersten Ranges in der
Weltwissenschaft vor dem Ersten Weltkrieg darstellte. Tatarkiewicz schrieb das
in Polen beliebteste dreibändige Handbuch der Geschichte der Philosophie und die
wohl im Weltausmaß herausragendste umfassende Abhandlung zur Geschichte der
Ästhetik, daß auch auf Englisch zugänglich ist.
Die heutigen Philosophieprofessoren sind Nachfolger der geistigen Väter, die
in ihrer Zeit eine Rolle in der internationalen Wissenschaft spielten.
Allerdings macht sich heute ein Defizit an intellektuellen und moralischen
Autoritäten dieses Ranges bemerkbar. In der Zeit der Isolierung durch den
Eisernen Vorhang, die Erziehung in den Bedingungen des gelebten Sozialismus und
die allgemein sinkende Moral des akademischen Lebens haben auch ihre Wirkung
getan. Die damit zusammenhängenden Beschwerden der polnischen Philosophie ähneln
denen der deutschen, dabei greifen sie aufgrund der ungünstigeren politischen
und finanziellen Bedingungen weiter um sich. Demgemäß scheint in Polen, genauso
wie in Deutschland das akademische Leben dominiert von den Karriere- und
Prestigefragen und das Kompetenzdefizit wird vom kollektiven Festhalten an
gewissen Illusionen und gegenseitigen Komplimenten wettgemacht. Auch hier lassen
die akademischen Sitten wie die wissenschafliche Werkstatt einiges zu wünschen
übrig, die Durschschnittsproduktion und der Provinzionalismus greifen um sich
und das Rezensionssystem und der Vertrieb von Finanzmitteln ist unbefriedigend.
Jedoch tun wir es unseren westlichen Kollegen nach, wenn wir die Anzeigen
unserer Vorträge sammeln, die wir zu demselben Thema oft Male halten. Von ihnen
haben wir uns auch die Wendung abgeschaut, daß wir „nach so was wie die Wahrheit
gar nicht mehr suchen“. In bezug auf die akademische Kultur haben wir allen
Anspruch darauf, uns für Anhänger der schlechten internationalen Trends und die
Betroffenen der fatalen politischen Realität der letzten Jahre zu halten. Jedoch
tun wir auch viel, um die Lage zu verbessern. Das atomisierte Milieu, gegliedert
in Zentren und „Schulen“ wird langsam integrer. Auch vertrauter mit dem Westen,
der uns als ein trotz allem erstrebenswertes Modell erscheint, welches die
begabtesten ansteuern. Einige von ihnen erwarben sich bereits einen Namen in den
internationalen Kreisen, wie z.B. der bereits erwähnte Marek Siemek oder die
Vertreter der analytsichen Philosophie: Jan Woleński,
Leszek Nowak, Tadeusz Szubka. Auch der intellektuelle Enthusiasmus, der in der
Uberzeugung mündet, daß Philosophie eine ernsthafte Sache ist wird immer stärker.
Im Meer von „Beiträgen zu Beiträgen“, von Durchschnittsproduktionen und
graphomanen Ausbrüchen tauchen auf und werden veröffentlicht auch wichtige und
kreative Bücher. Neben der positiven Entwicklung, die sich im Bereich der
analytischen Philosophie und der Wissenschaftstheorie abzeichnet, wird auch die
hervorragende Tradition der Mediävistik fortgesetzt. Auch die politische
Philosophie gedeiht recht gut, die Kreise der Kenner deutscher und französischer
Philosophie werden weiter. Auch die Berühmtheiten der internationalen
Philosophie kommen immer häüfiger nach Polen und zeigen Interesse an dem
wissenschaftlichen Fortkommen der jungen Kollegen, die ihre Bücher über sie
schreiben. Die Umwandlungen, positive Umwandlungen sind ganz deutlich zu sehen.
Darüber möchte ich Ihnen aber in künftigen, wohl nicht so umfangreichen
Berichten aus Polen schreiben. Mit der Zeit hoffe ich Erscheinungen und
Entwicklungen darzustellen, die keinen Platz in diesem Text fanden: die
wichtigsten Zentren der polnischen Philosophie Warschau, Krakau, Posen, Lublin,
Breslau, Thorn, Kattowitz, Wien (sic!), die wichtigsten neueren philosophischen
Veröffentlichungen, die interessantesten Vertreter und Ereignisse. Die Themen
deren Spektrum vom „letzten Tomisten im Südosten bis zum letzten Kommunisten im
Nordwesten“ reicht, reiben nicht ab. Ich
möchte ein bißchen die Leistungen der polnischen Philosophie propagieren und
freue mich desto mehr auf die Möglichkeit, zu ihnen zu sprechen, da ich als in
meiner Eigenschaft als Herausgeber und Chefredakteur einer philosophischen
Zeitschrift in Polen über die Wirksamkeit solcher Popularisierungsarbeit fest
überzeugt bin. Gleichzeitig möchte ich aber auch ein redlicher, Kritik nicht
scheuender Berichterstatter sein. Und trotz des scheinbaren Widerspruchs möchte
ich beides gleichzeitig versprechen; Propaganda und Redlichkeit. Zu dem dritten
Vorhaben, nämlich , nicht zu langweilen, kann ich Sie nur meiner besten Vorsätze
versichern.
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