Von März nach Wien
In Ländern mit einer düsteren politischen Vergangenheit hat
jedes bedeutendere Milieu seine eigenen um Wendepunkte jener Vergangenheit
gewobenen Legenden und Traditionen. Eine solcher Sternstunden war für
intellektuelle Kreise in Polen “der März”, das heißt jenes erhabene und
tragische Jahr 1968, dessen polnisches Kapitel, so peripher es sich aus der
Perspektive der USA oder Frankreichs auch ausnehmen mag, einen dramatischeren
Verlauf als die dortigen Krawalle jener Zeit nahm und einen wohl
schwerwiegenderen Einfluß auf das Schicksal des Landes ausgeübt hat. Eine
Begleiterscheinung der Studentenproteste, die zum Teil auch im Rahmen der
internen Machtkämpfe von einer Fraktion im Parteiapparat provoziert wurden, war
u. a. eine blamable antisemitische Hetze, in deren Folge Tausende von polnischen
Juden - vor allem aus den Kreisen der Intelligenz - zur Emigration gezwungen
oder zumindest ihrer Arbeitsstellen (besonders an Hochschulen) beraubt wurden.
Ins Exil ist dann auch eine gewisse Anzahl von Nicht-Juden gegangen, die dem
Regime unbequem geworden waren.
Studenten und Hochschullehrer, die, in welcher Form auch
immer, sich damals an der Freiheitsbewegung der Jugend beteiligt haben, bilden
eine besondere “Generation”, eine bis heute erkennbare, in einer gewissen Weise
gesellschaftlich, intellektuell und moralisch integrale Schicht - gemeinsam sind
ihnen allen eine eigenartige Sensibilität, Idealismus, hervorragende Verdienste
um das Wohl des Landes und - wie charakteristisch! - Freiheit von jeglicher
Machtsucht. Und es sind eben die Angehörigen jener Generation, bei denen
heutzutage die geistige Führung Polens liegt, obwohl sie sich um diese ja gar
nicht bewerben. Sie sind bekannt und anerkannt bloß um ihrer Tätigkeit willen.
Manche leben in Polen (der berühmteste von ihnen ist wohl Adam Michnik, der
Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung, Gazeta Wyborcza,
manche im Ausland (der bekannteste unter den letzteren ist sicherlich Leszek
Kołakowski, ein 1968 noch junger Philosophieprofessor in Warschau, heute einer
der bedeutendsten Oxforder Gelehrten und beliebtesten Essayisten der Welt. Es
sind unter ihnen sowohl polnische Juden, als auch Polen ohne jüdische Ahnen,
doch mit der Frage von jemandes Abstammung pflegt man sich in ihrem Kreis nicht
so sehr auseinanderzusetzen. Die meisten sind Sozialisten, wiewohl es unter
ihnen auch einige gibt, die andere Anschauungen vertreten.
Nach dem März wurde das Philosophiestudium an der
Warschauer Universität zeitweise aufgehoben und eine Gruppe von Philosophen
beteiligte sich aktiv an der demokratischen Bewegung (L. Kołakowski, Z. Baumann,
B. Baczko, S. Morawski u.a.). Dies überblendet die Kollaboration mit dem Regime,
mit der sich damals andere Philosophiedozenten befleckt haben, sowie die
Aktivität der Parteifunktionäre, denen universitäre Leitstellen anvertraut
worden waren. Solchen Treuen und Zuverlässigen öffneten die damaligen Behörden
zwar eifrig Tor und Tür - es waren sogenannte “Märzdozenten”, die auch ohne
Habilitation von der Partei auf frei gewordene Lehrstühle berufen wurden - doch
die polnische Philosophie ist aus dem “März” - wie man es aus der Perspektive
der dazwischeliegenden Jahrzehnten sehen kann - moralisch gestärkt
herausgekommen.
Wer im März 1968 auch nur 20 Jahre alt war und das Glück
hatte, Student in Warschau, Breslau oder sonstwo zu sein, wer jene politische
Gärung und Protestwelle erlebt und sich daran beteiligt hat - dies war
allerdings eine Minderheit - der gehört einer wahrhaft magischen Generation an.
Diese vermochte sich auch einen Weg in die Herzen der jungen Leute zu bahnen,
die 1988 zu Beginn jener schicksalsträchtigen, den “Völkerherbst” schon
vorankündigenden Ereignisse in Polen auf die Straße gingen und es war dann kein
Zufall, daß eine ihrer Parolen lautete: “Wir wurden 1968 geboren.”
Unter den damals 20-jährigen Protagonisten des “Märzes” war
auch jener Mensch, der heute die wohl frappanteste und eindrucksvollste Gestalt
des philosophischen Kapitels in der Legende der Generation 68 bildet - Krzysztof
Michalski.
Nach der festen Überzeugung der klatschsüchtigen Habilitanden
hierzulande, gilt einer, der keinen Kontakt mit Michalski hält, gar nichts. Wer
mit Michalski nicht aud dem Duzfuß steht, gilt höchstens auf einer Lokalebene
etwas. Wir sind beinahe bereit zu glauben, daß ein Hauch von Politik, Geld und
Macht, kurz, ein Hauch von gesamter Realität dieser Welt, der (polnische)
Philosophen so fern bleiben, unsere hinterwäldlerischen Nester nur dann flüchtig
anweht, wenn Michalski hier auf einer Durchreise eintrifft. In Krakau ist er
allerdings ein recht seltener Gast! - Anläßlich seines letzten öffentlichen
Auftritts - in der wichtigen Forumsdiskussion über ein neues Buch des heutzutage
berühmtesten polnischen Philosophen Pater Józef Tischners, seines nahen Freundes
und Mitarbeiters - wurde er von dem abwesenden Autor in einem Brief an die
Versammelten in (ungefähr) solchen Worten vorgestellt: Alle Teilnehmer des
Forums seien wahrhaft hervorragend und großartig, doch das Publikum habe an
diesem Tag die besondere Gelegenheit, zum ersten Mal in Krakau Krzysztof
Michalski persönlich zu erleben. Das vierhundertköpfige Publikum war vor
Begeisterung außer Rand und Band. Männlicher Charme, Witz, Ironie und
Selbstironie, Intelligenz, vollkommene Souveränität im Äußern seiner Meinungen
und gänzliches Fehlen jeglicher Andacht vor lokalen Autoritäten - all dies
bedeutet neue Verehrerinnen, neue Neider und ein Wirrwarr in Köpfen. Und während
einer der Einheimischen (Nachkomme eines Grafengeschlechts, das einst im
österreichen Krakau schaltetet und waltete, wie es ihm beliebte) über einen
“Dialog der Gottespersonen in der Einheit der Trinität” predigte, warf jener
ständige Besucher des vatikanischen Hofes der Stadt Krakau die Wahrheit ins
Gesicht: “Die Papstverehrung in Polen grenzt an Idolatrie.” Wer ist denn der,
der sich so was erlauben darf? Wer ist der, den vierhundert Namenlose und
einhundert Professoren sehen kamen? Sie dürften bloß Gerüchten geglaubt haben,
denn diesmal waren keine Einladungen versandt worden.
Fragen wir aber weiter. Wer ist der, der noch als Jüngling
während eines der berühmten Seminare in Dubrovnik das Herz G. Gadamers erobert
hat? Und den Pater Tischner ohne Bedenken in den engsten Kreis um den Papst
Wojtyła eingeführt hat. Wer ist jener polnische (polnische?) Emigrant der
Kriegsrechtzeit, den der stellvertretende Bürgermeister von Wien und spätere
Bundeskanzler Busek in dem unerhörten Unterfangen förderte, ein Institut für die
Wissenschaften vom Menschen zu gründen? Wovon kommt es, daß so viele
hervorragende und berühmte Geisteswissenschaftler aus aller Welt ihm ihre
Freundschaft anbieten und so bereitwillig das Prestige dieser einzigartigen
Institution steigern, indem sie das Haus in der Spittelauer Lände aufsuchen? Man
sagt von ihm: ein Genie, ein Organisationsgenie. Aber es ist nicht nur das.
Michalski ist vor allem eine durch das Jahr 1968 geformte Erscheinung. Der
entscheidende Faktor wird wohl die seiner Generation so typische Freiheit und
Natürlichkeit im Umgang mit Menschen sein. Es ist eine Verbindung von Charme,
Intelligenz, Persönlichkeitsstärke (deren er sich sehr gut bewußt ist) sowie
einer kontrollierten Egozentrik (statt “eee” und “hmmm” pflegt dieses wunderbare
Enfant terrible immer nur “Ich” zu sagen), die bewirkt, daß all
diejenigen, die sich das, aus welchen Gründen auch immer, “erlauben können”, in
seiner Gegenwart weich wie Wachs werden, die anderen hingegen, die zu jung sind,
um “eine Schwäche für ihn haben zu dürfen”, in ihm eine Autorität für sich sehen
wollen (übrigens mit Recht, denn abgesehen von der ganzen Legende, ist Michalski
ein profunder Kenner Husserls, Heideggers und Nietzsches und damit auch ein
Philosoph, wie es sich gehört).
Der Eigenart von Krzysztof Michalski entspricht auch die
Eigenart seines Institutes. Diese philosophisch-politische Anstalt, bietet
Wissenschaftlern und Übersetzern aus verschiedenen Bereichen, Ländern und von
verschiedenem Rang für kürzere oder längere Aufenhalte einen hervorragenden
Arbeitsplatz, organisiert Konferenzen, die das Ziel verfolgen, die Entwicklung
der Demokratie zu fördern, und entwickelt eine rege öffentliche Tätigkeit im
Geiste der besten Aufklärungstradition. Von anderen Einrichtungen dieser Art
unterscheidet sich das IWM dadurch, daß es kein eindeutiges ideologisches Profil
besitzt. Mit der einen Hand gibt man hier Materialien der päpstlichen Seminare
in Castel Gandolfo, mit der anderen feministische Publikationen heraus. Lord
Dahrendorf scheint dem Institut genauso lieb zu sein, wie Jaques Derrida. Und
dies alles geschieht in Wien, wo “Lesbarkeit” zu den Kardinaltugenden gehört.
Das IWM ist eine nicht sehr große (etwa 25 Mitarbeiter und
Gäste) aber sehr geschmackvoll eingerichtete und wohlhabende Institution. Es ist
vor 17 Jahren [jetzt, in 2003: 21]- in der Zeit, wo das von der “Solidarność”
entzückte Europa den Polen alle Türen weit öffnete - dank der Zuwendungen
G.Soros’ und dann auch anderer Stiftungen (Bosch, Ford, Rockefeller u.a.) sowie
der Behörden Wiens und Österreichs entstanden. Sein Sitz ist ein schönes
Bürgerhaus mit 50 Räumen (darunter auch einem eigenen Speisesaal) und einer im
Erdgeschoß untergebrachten prächtigen Bibliothek, die Bücher aus dem Gebiet der
Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften sammelt. Die Mitarbeiter und
Gäste arbeiten fleißig, in ihren bequemen Zimmern eingeschlossen, treffen sich
aber oft im Speisesaal, in der Bibliothek, in Vorträgen oder bei Festessen. Für
mondäne Atmosphäre sorgen die immer wieder im Institut weilenden Berühmtheiten
sowie die geschmackvolle Ausstattung aller Räume. Alle sind von dem IMW
begeistert, in Wien verliebt und in diesem Liebestaumel schreiben oder
übersetzen sie ausgezeichnete Bücher. Die Arbeit konzentriert sich auf
sozial-politische Probleme, insbesondere die, die mit der heutigen
Transformation der Gesellschaftssysteme in Mitteleuropa zusammenhängen, eine
zumindest gleich bedeutende Rolle spielt hier aber auch Philosophie. Es reicht
hier zu erwähnen, daß das IWM das Archiv von Jan Patocka beherbergt (Patocka war
ein großer tschechischer Philosoph aus der phänomenologischen Schule) und seine
Werke herausgibt.
Das IWM ist eine internationale, englisch- und
deutschsprachige Institution, und doch bleibt sie vom polnischen Standpunkt aus
eine polnische Einrichtung, denn sie ist das Werk eines Polen und übt einen
wesentlichen Einfluß auf unser philosophisches Leben und Selbstbewußtsein aus.
Die Bedeutung des IMW für polnische Philosophie ist kaum zu überschätzen. Die
kleine elitäre Gruppe jener, die dort Stammgäste geworden sind, sind als
Glückspilze in der Art von ehemaligen Stipendiaten der Humboldt-Stiftung
anzusehen. Diejenigen, die dort nur einmal zu einem Studienaufenthalt gewesen
sind, bilden aber auch schon eine ansehnliche Schar und sie sind es, die immer
etwas von dortigem Glanz und jener mondänen Aura mit nach Hause bringen, was
unser Selbstgefühl so stärkt. In dieser festlichen Atmosphäre rankt sich auch um
die Gestalt von Krzysztof Michalski eine richtige Legende. Er selbst weiß davon
wenig, aber doch viel genug, um sich dessen bewußt zu sein, was er tut, wenn er
an einem Fenster stehend und sich am Kopf kratzend, mit aufgekrämpelten
Hemdsärmeln, sich an die vor Erregung zittenrnde Teilnehmer eines Seminars in
Warschau wendet und so nebenbei die Bemerkung fallen läßt: “Wissen Sie, ich
arbeite an einem gewissen Institut in Wien...”.
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