Jan Hartman
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Wesenhafter Formalismus der praktischen Philosophie

[Erschien als„Wesenhafter Formalismus der praktischen Philosophie”, Synthesis Philosophica 26-27 (1-2/1999), ss. 235-245.]

Im folgenden setze ich mir zum Ziel, einige Beispiele aus dem Bereich der Heurese der praktischen Philosophie anzuführen, die die notorische Abhängigkeit der Spekulation in diesem Gebiet von formalistischen, prozeduralen oder - allgemeiner gesagt - transzendentalisierenden Bestimmungen und logischen Figuren veranschaulichen würden. Die Aufgabe jener Bestimmungen und Figuren ist es, ethischen und politischen Theorien eine letztgültige Begründung zu liefern, und zwar unter Berufung auf eine materielle Ordnung, eine Moralpraxis als souveräne Instanz, in der sich wirklich das Gute und das Böse vollziehen. Die aufgeklärte Moral und politische Praxis übernehmen wiederum von der Theorie einen allgemeinen Legitimierungsimperativ und nutzen zu diesem Zweck gerade jene von der praktischen Philosophie gelieferten formalen Begriffe. Mit anderen Worten: Philosophie beruft sich auf die Instanz der Praxis, während sich die Praxis in philosophische Begriffe flüchtet.

Praktische Philosophie wird im umgangssprachlichen Sinne als eine Art Erkenntnis verstanden, die der Tugend und Gerechtigkeit dient - als in der Erkenntnis liegendes Gut, das zu einem anderen, außerhalb der Grenzen der Erkenntnis liegenden führt.

Praktische Philosophie ist schon im Ausgangspunkt als eine sich selbst bestimmende definiert, die durch jene Selbstbestimmung auch ihre Selbstbegründung und Selbslegitimierung vollzieht. Mehr noch: Jene Bestimmung der praktischen Philosophie als eines Bereiches, der sich durch Selbstlegitimierung begründet, entscheidet darüber, daß praktische Philosophie im allgemeinen zum legitimierenden Denken wird, und - indem sie ihre eigene Bestimmung auch auf ihren Gegenstand überträgt - zu einem Denken, das zum Prinzip der Legitimität überall seine Negativität erhebt - das Geschehen, die Praxis. Daher auch jene in der Ethik und der Politik vorhandene, nicht zu beseitigende Spannung zwischen ihrem wesenhaft eigenen formalen Gehalt und dem heterogenen empirischen, materiellen Gehalt, der sich einer apodiktischen Erfassung entzieht.

Denn eine spekulative Bestimmung der praktischen Philosophie lautet so: theoretische Erkenntnis, die in ihrer Negativität (d.h. in der Praxis) Folgen bewirkt, und gleichzeitig aus dieser Negativität ihre Legitimität schöpft. Jenes Folgenbewirken der praktischen Philosophie ist wiederum formal bestimmt - als „Einem-Zweck-Dienen”.  Auf der Ebene der Verstandsbestimmungen könnte man sagen, daß die praktische Philosophie dazu berufen ist, durch die Erkenntnis der Wahrheit darüber, was das Gute ist, einen Beitrag zu dessen Erzielung zu leisten - eben darauf gründet sich auch ihre Gültigkeit und Nützlichkeit. Das Prinzip jener Gültigkeit der Ethik und Politik ist somit die Tatsache, daß sie den Einzelnen an Tugend und die Gemeinschaft an Gerechtigkeit reicher machen.

Ohne diese Selbstbestimmung, die auf die sokratische Tradition zurückgeht und in der klassischen Ethik - einschließlich der Kantschen - nie bestritten wurde, wäre weder eine wirkliche historische Legitimierung der ethischen oder politischen Erziehungsarbeit, noch der Anspruch der praktischen Philosophie auf eine Regelung des individuellen und des öffentlichen Lebens möglich.

Die Möglichkeit der oben angegebenen Bestimmung gründet sich auf eine Unterscheidung zwischen dem eigenen Bereich der Vernunftherrschaft - einem Theoriebereich, wo die Vernunft ein souveräner Geber von Bestimmungen und ein Selbstzweck bleibt - und dem Bereich der Vernunftanwendung, in dem die Vernunft ursprünglich nicht zu Hause ist und den sie sich erst untertan machen muß. Eine nicht zu beseitigende Grundlage der praktischen Philosophie ist daher die Einsicht, daß ihr eigentliches, d.h. praktisches Ziel die Begründung der Vernunftherrschaft im Menschen ist, die Unterwerfung seines Willens unter die Lenkung der Vernuft, und damit eine Verwirklichung des Menschseins als Berufung zum Sieg seiner wesenhaft höchsten Gewalt - der Vernunft. Daraus ergibt sich, daß jenes Praktische - im Sinne der Anwendung der Vernunft auf deren Negativität, das Handeln - in die Bemühung übergeht, die Herrschaft der theoretischen Vernunft auszudehnen und für ihn mittels der Ideale (der formalen Ideen des Zieles/desGuten, d.h. der Ideen der Tugend, des Glücks usw.) einen besonderen Herrschaftsbereich (oder eigentlich „Anwendungsbereich”) zu beanspruchen, der dann praktische Vernunft heißt und - vereinfachend ausgedrückt - in solchen Begriffen erfaßt wird wie vernünftiger Wille, Moral oder Glaube. Zum Ziel der Vernunft wird hier ein regulativer Grundsatz, der ursprünglich für ihre Negativität (das Handeln) aufgestellt wurde - d.h. das Gute. Die formale regulative Idee der Vernunft im allgemeinen - die Wahrheit - erfährt hier eine Modifikation, indem eine besondere regulative Idee für ihren „zweiten”, negativen, Herrschaftsbereich - das Handeln statuiert wird. Diese Idee ist eben das Gute.

Kurz gesagt: Das Postulat der praktischen Philosophie ist es, das Handeln (individuelle Aktivitäten und öffentliches Leben) zum Bereich von rationellen Bestimmungen zu machen. Durch dieses Postulat bestimmt sich die praktische Philosophie selbst als eine, die, ertsens, legitim den Namen des Denkens (der Wissenschaft) beansprucht, und zweitens, sich zum Grundsatz ihrer Aktivität setzt, den Imperativ der Erzielung des Guten zu formulieren und eventuell auch materielle Umrisse des Guten anschaulich zu machen, und zwar in Gestalt von wenigstens zum Teil empirischen, positiven Hinweisen, die sich auf den Gehalt der Tugenden oder gar auf den materiellen Gehalt lobenswerter Taten beziehen würden. Der Normativismus der praktischen Philosophie, (der durch sie selbst in der Bestimmung ihres Bereiches als Domäne von Pflicht, Soll und Gesetz, oder, allgemein gesagt, des kategorischen Imperativs ausgedrückt wird), ist also eine Folge ihres Initialschrittes, durch den sie ihren Sinn als Wissenschaft stiftet, das heißt sich selbst legitimiert. Alle ihre Ansprüche innerhalb der Ethik und des politischen Diskurses sind Derivate jener ersten Entscheidung, mit der man das Gute, den formalen Imperativ „man soll Gutes tun” aufstellt (bonum faciendum, malum vitandum) und das Recht der Ethik auf Existenz und Ausübung ihrer Herrschaftsfunktion im individuellen und politischen Leben als Folge des formalen Rechts und der formalen Pflicht bestimmt, dem Guten zu dienen. Da das Gute eher oder später in Kategorien des Absoluten bestimmt werden muß, muß auch eine selbstbegründende Ethik, die dann ihren Legitimitätsanspruch auch auf den Anspruch auf eine allumfassende Herrschaft im Bereich des Handelns überträgt, ihren Höhepunkt in der Theologie finden, in der Erstreckung des Gültigkeitsanspruchs der Vernunft auf den Glauben und die Anbetung des Absoluten, und damit auch in einer Vereinigung der Moral (als Anerekennung des Guten überhaupt) mit dem Glauben (als Anerkennung des höchsten Guten).

Transzendentale Verwurzelung der praktischen Philosophie als solcher, in ihrer Ursprungsbestimmung vollzogen, ist für die gesamte Tradition der klassischen Moralphilosophie und Philosophie der Politik schlechthin verbindlich, ohne lediglich eine „Kant-Interpretation” und umso weniger eine Leistung Kants selbst darzustellen. Kant hat nur in vollkomeneren Begriffen erfaßt, was eine Wirklichkeit der praktischen Vernunft bildet und was möglicherweise schon galt, bevor die formale Verpflichtung zur Tugend (das Gute als Ziel des Innenlebens) und zur Gerechtigkeit (das Gute als Ziel des Handelns) von Sokrates bestimmt worden ist.

Gerade die Tugend als regulatives Doppelprinzip - für das Ich als jene Instanz, die die Herrschaft der Vernuft  über den Willen einsetzt - sowie für seine Negativität - als ein Prinzip, das die Urheberschaft des Ichs in der objektiven Wirklichkeit als dem Endziel (dem Guten) gemäß qualifiziert - stellt das transzendentale Hauptmoment der diskursiven Praxis der klassischen Moralistik dar. Da das formale Moment der Tugend in der klassischen Ethik im Begriff der Gerechtigkeit erfaßt ist (jede Tugend ist ein Erscheinungsbild der Gerechtigkeit und die Tugend als solche ist Gerechtigkeit schlechthin), während Gerechtigkeit als Tugend (schlechthin) oder eine der Tugenden bezeichnet wird, den regulativen und den transzendentalisierenden Begriff der Gerechtigkeit besprechen wir hier zusammen mit dem Begriff der Tugend.

Tugend, im moralischen Sinne, heißt:

1. Vollkommenheit des denkenden und über seine Urheberschaft - das heißt, über das Handeln (seines) Menschen - vernunftmäßig (souverän) entscheidenden Ichs. Es ist die Tugend im Sinne einer regulativen Idee des Innenlebens; kategorial wird sie dabei nicht substanziell sondern formal bestimmt: und zwar als Harmonie der Gewalten des Subjekts im Hinblick auf eine Einheit seines Zieles.

2. Ein Korrelat des immanenten (subjektiven) Tugendbegriffes, das diesem Begriff ein wirkliches Dasein verleiht, ist ein objektiver Begriff der Tugend, verstanden als reales Vermögen, Gutes zu tun. Er nimmt zwei Gestalten an. Zum ersten:  er ist ein objektives Korrelat des subjektiven Tugendbegriffes und kennzeichnet eine reale Fähigkeit zum guten Handeln schlechthin; es ist eine objektive Integraltugend - des Weisen, des Tugendritters, des gerechten Mannes - die als regulative Idee (ein Ideal) im wirklichen Modus dient, das heißt, sie wird in Gestalt eines idealisierten personhaften Musterbeispiels vorgeführt, und mitunter auch an eine bestimmte Person von absoluter Moralautorität (den Heiligen) gebunden. In diesem Sinne bezeichnet man die Tugend als Gerechtigkeit (z.B. in dem oben erwähnten Begriff des „gerechten Mannes”). Zum zweiten: der objektive Tugendbegriff bezieht sich auf aspektgebundene einzelne Erscheinungsbilder der Tugend schlechthin. Dann bedeutet die Tugend eine wirkliche Fähigkeit, in einem Bereich richtig zu handeln, das heißt unter Berücksichtigung einzelner Handelnsgewalten oder verschiedener Arten des Guten, die das Handeln betreffen kann. Diese „wirkliche Fähigkeit” ist eine lebhafte, reale Potentialität, das heißt, eine anerzogene Gewohnheit.

Im abgeleiteten Sinne bezeichnet man als „Tugend” den Willen, immer besser zu werden, einzelne objektive Tugenden sowie die Tugend schlechthin in sich selbst herauszubilden und sein ganzes Leben dem Vernunftprinzip, das heißt, der subjektiven Tugend unterzuordnen. Mit anderen Worten: schon das Trachten nach Tugend oder Tugenden, ein auf Ideale ausgerichtetes Leben nennt man mitunter „Tugend”.

3. Objektive Tugend, als Ideal der Tugend hingestellt, gewinnt aus der Perspektive der Urteilskraft - das heißt, als Gegenstand von Zuneigung und Liebe einen selbständigen und besonderen Sinn. Die Tugend kommt hier nicht als Pflicht zur Erscheinung, sondern als ein Gut, an dem man Gefallen findet. In der allgemeinen Gestalt wird die Tugend als morale und metaphysische Schönheit der Heiligkeit affirmiert, während die subjektive Tugend als Schönheit des Charakters und der von ihm vollbrachten Taten ihre Affirmation findet.

Die Tugend im subjektiven Sinne ist rein formal, und zwar teleologisch bestimmt. Sie ist Vollkommenheit (Ziel) eines vernünftigen Lebens. Die Anerkennung der Tugend ist transzendental nötig als Voraussetzung für die Möglichkeit, das lebendige (handelnde) Ich als vernünftig zu erachten. Denn die Vernünftigkeit erzwingt eine Bestimmung auf das das Ziel hin. Dieses Ziel heißt Tugend.

Die Tugend im objektiven Sinne ist auch formal bestimmt, auch wenn dies schwerer zu bemerken ist. Man könnte meinen, daß der Begriff „reales Vermögen, Gutes zu tun” etwas materiell Wirkliches statuiert. Diese Statuierung geht indessen nicht über die Grenzen der Potentialität, das heißt etwas Formalen,  hinaus. In dem Begriff der Tugend als anerzogener Disposition zum guten Handeln in einem Bereich läßt man etwas Formales (nämlich die Disposition als logisch nötiges Proprium  seiner Verwirklichung: wenn etwas da ist, muß es früher auch möglich gewesen sein) zu etwas Wirklichem werden (wenn sich etwas vollzogen hat, erweist sich dessen Möglichkeit als wirklich). Es ist allerdings nur eine formale Statuierung; die Tugend im subjektiven Sinne ist nur ein formales, transzendentales Postulat, eine Voraussetzung für die Möglichkeit, gewisse Taten als gut zu erachten, und zwar nicht als zufällig gut, sondern als gut in Rücksicht auf das Gute des Täters - eben jenes Gute wird als Tugend bezeichnet.

Zum Ideal sublimiert, ist die objektive Tugend wieder eine formale teleologische Bestimmung, und genauer, ein Muster des Handelns oder eine allgemeine regulative Idee als „Standarte der Tugend”. Diese birgt in sich keinen anderen Gehalt als den postulierten, einen, der sich durch sich selbst legitimiert und durch sich selbst eine Bürgschaft für seine Gültigkeit als Ideal bildet. Umso mehr betrifft diese Selbstlegitimierung auch ästhetisiertes Ideal der Tugend als Objekt, an dem man Gefallen findet.

In jedem Sinne ist die Gütligkeit der Tugend transzendental statuiert: teleologisch, postulativ, als Ideal, regulative Idee oder als Muster. Die Wirklichkeit der Tugend geht dabei nicht über die transzendentale Garantie der Gültigkeit hinaus. Dies bedeutet, daß die normative und ästimative Herrschaft der praktischen Vernunft über das Handeln einen usurpatorischen Charakter hat. Denn sie ist im Grunde postulativ und konstitutiv (die praktische Vernunft setzt die Moral als Bereich der Verpflichtung ein). Die Absolutheit der Gültigkeit dessen, was als Geltendes existiert - der konkreten Pflicht und der allgemeinen Norm, wiewohl zweifellos und gegen die Frage gefeit: „warum gilt die Moral überhaupt?”, erfordert doch eine absolute Begründung. Die konstitutive Kraft der praktischen Vernunft, die als empirisches philosophisches Gemüt wirkt, indem sie transzendentale Begriffe der Tugend und der Pflicht bestimmt, ist selbstverständlich keine absolute Instanz. Deshalb kann weder die Moral, noch die jene Moral einsetzende Vernunft ohne ein absolutes Prinzip der moralischen Ordnung auskommen, das heißt, ohne Bestimmung der Pflicht als Gottes Gesetz. Leider ist die Statuierung einer Wirklichkeit Gottes noch ein Akt der konstitutiven praktischen Vernunft, ein Postulat, das die transzendentalen Bedingungen allen Sinnes und aller Vernünftigkeit der Ansprüche vom menschlichen Dasein überhaupt bestimmt - der Ansprüche auf eine verbindliche Erkenntnis und einen Lebenssinn schlechthin. Die praktische Vernunft kann also sich selbst nur vortäuschen, daß sie nicht die einzige Quelle der Moral ist, sondern daß die Pflicht in einer der Vernunft gegenüber transzendenten Instanz ihren Ursprung hat. Es ist vielmehr der menschliche Wille, der sich in seiner allgemein gesetzgebenden Tätigkeit als gut bestimmt, und nicht, wie es Kant postuliert, der Wille sei, soweit er auch gut sei, allgemein gesetzgebend.

Die subjektive Tugend bestimmt auch die Pflicht des Menschen seiner eigenen Wesenheit gegenüber: du sollst, deiner Natur entsprechend, möglichst gut werden. Als objektive Pflicht zu tun, was gut ist, und ein Mensch zu werden, der Gutes tut, wird die objektive Tugend manchmal Gerechtigkeit genannt. Denn Gerechtigkeit heißt eine Gebührlichkeit, eine rein formale Übereinstimmung dessen, was ist, mit dem, wie es sein soll.

Als ein Modus des Tugendbegriffes nimmt die Gerechtigkeit die Gestalt des Prinzips einer Synthese von einzelnen subjektiven Tugenden an, des Prinzips, nach dem eine mit Tugenden ausgestattete Wesenheit dem Guten (dem Wohltun) untergeordnet wird. Deshalb bezeichnet man die Gerechtigkeit als einen Knoten von Tugenden oder Tugend der Tugenden, das heißt ein allgemeines Principium (einen Imperativ) des Wohltuns. Dasselbe formale Prinzip, als etwas Wirkliches dargestellt - als wirkliche Disposition des Subjekts zum Wohltun - wird mitunter als Liebe (caritas) oder als guter Wille bezeichnet.

Eine formale Bestimmung der Gerechtigkeit als Gebührlichkeit kommt in allen Tugendbegriffen zum Ausdruck. Denn alle Tugenden sind Momente einer allgemeinen objektiven Tugend - der Gerechtigkeit. Ein apriorischer Formalismus, eine Postulativität der Tugendbestimmungen sind geradezu offensichtlich. Dieser Formalismus besteht in jedem Fall in einem dialektischen Verhältnis zwischen der Superlativität des Sollens und dem „lediglich” angemessenen Charakter des Gebührenden. Das Gute als das Gebührende wird daher nach zwei formalen Prinzipien bestimmt: der Superlativität als höchstem Maß des Guten und der Angemessenheit als dem eigentlichen Maß des Guten.

Es sei hier auch auf den Formalismus des Begriffes „Gerechtigkeit” im Sinne „Einzeltugend” hingewiesen. Sie besteht in einer realen Disposition, jedem, was ihm mit Recht gebührt, abzugeben. „Mit Recht” heißt hier nichts anderes als „gerecht”. Gerechtigkeit ist also das Vermögen, in Distribution und Austausch von Gütern gerecht zu sein. Mit anderen Worten: das Vermögen, in diesem Bereich das Beste zu tun, was in diesem Falle in der Findung des richtigen Maßes (des Maßes der mitgeteilten Gütern) besteht. Diese Bestimmungen haben einen so sehr formalen, postulativen Charakter, daß sie sich auf den apriorische Grundsatz bringen lassen, dem zufolge die Mitteilung von Gütern besser oder schlechter sein kann; daraus resultiert, daß es eine vollkommene Gestalt jener Mitteilung existiert - eben diese vollkommene Gestalt nennt man Gerechtigkeit. Der extreme Formalismus des klassischen Gerechtigkeitsbegriffes beraubt ihn sogar seines kriteriologischen Wertes, mit Ausnahme eines formalen Momentes, das mitunter eine materielle Widerspiegelung besitzt. Es ist das Moment des Ausgleichs, das einen Modelfall der Gerechtigkeit statuiert, wo eine gleiche Verteilung von Gütern unter einander Gleiche, das heißt gleiche Behandlung Verdienende, zustande kommt.

Wieso kann sich eine formale Bestimmung der Tugenden, darunter auch der  Gerechtigkeit, überhaupt erhalten? Der Grund dafür ist die Tatsache, daß je formaler eine Bestimmung ist, desto stärker sie auch an etwas materiell Wirkliches als deren Negativität appeliert. Eine solche materielle Wirklichkeit ist im hier gegebenen Fall die durch keine diskursiven Kriterien und Prozeduren zu ersetzende Kunst, gerecht zu sein, ein reales Vermögen des Subjekts, Gutes zu tun. Der Formalismus der Gerechtigkeit ist nur durch ein ständiges Hervorheben der Tatsache möglich, daß die Tugend etwas Reales ist, ein reales Vermögen, Gutes zu tun, das sich nicht durch ein prozedurales Wissen darüber ersetzen läßt, wie man sich in einzelnen abstrakt definierten Situationen verhalten soll.

Einen rein formalen Charakter hat auch die Bestimmung der Tugend der Weisheit, die eine Fähigkeit bedeutet, sich im Handeln durch die Vernunft leiten zu lassen, das ist, ein allgemeines volitiv-intellektuelles Vermögen. Ähnlich sieht es im Falle der Tugend des Maßhaltens aus, deren Name selbst schon auf das formale Moment der Vollkommenheit als Fähigkeit, richtiges Maß (im Genuß) zu halten, hindeutet.

Da die Tugend eine postulative, formale Bestimmung der realen Fähigkeit ist, im Handeln jeweils ein richtiges Maß zu halten, entsprechen in der klassischen Aretologie jeder Tugend zwei Arten der Verletzung jenes richtigen Maßes: Mangel und Überschuß. Nichts drückt so deutlich und sentenziös den Formalismus des Tugenbegriffes aus wie die Feststellung, daß die Tugend jeweils eine „goldene Mitte” zwischen zwei Lastern sei.

Die ethische Fassung des Gerechtigkeitsbegriffes bestimmt auch dessen politische Fassung. Dies vollzieht sich mittels jener schon erwähnten Idee des Ausgleichs. Im politischen Diskurs gilt die Voraussetzung, daß der wirkliche Verdienst der politischen Subjekte, insbesondere der einzelnen Bürger, der diese zu einem proportionalen Anteil an der Güterverteilung berechtigt, unbekannt bleibe; genauer gesagt: niemand sei dazu berechtigt, diesen Verdienst autoritativ festzusetzen. In der Folge wird der proportionale Anteil negativ durch einen gleichen ersetzt, der in Anbetracht der Tatsache, daß niemand weiß, wem was wirklich gebührt, zu einem Surrogat der Gerechtigkeit wird. Eine positive Grundlage für die politische Regel der Gleichstellung von Subjekten ist gewöhnlich die formale Bestimmung jener Subjekte, besonders einzelner Bürger als gleich, und zwar auf Grund der sie alle verbindenden Menschlichkeit sowie eines einheitlichen politischen Aktes, der allen Subjekten (Bürgern) denselben (also auch den gleichen) politischen Status der politischen Subjekte eines Staates verleiht (kontitutionelle Gleichheit).

Gerechtigkeit als Gleichheit hat einen rein formalen Charakter, und doch wird sie von den meisten als ein positiver Begriff angesehen. Denn sie bedeutet - in gesetzlicher Dimension - eine Garantie: erstens, eine Garantie gleicher politischer Rechte (was aus psychologischen Gründen als eine Art Privileg begriffen wird), und zweitens, Garantie eines indisktiminativen Charakters von dem Recht.

Sowohl die Ethik, als auch die politische Philosophie (besonders dann, wenn sie das Gebiet des öffentlichen Seins betreten, wozu sie sich auf Grund der Definition selbst berufen) nutzen  auf Schritt und Tritt das dialektische Verhältnis des formalen Wesens ihrer Bestimmungen - Definitionen, Normen und Postulate - zur materiellen Konkretheit ihrer Anwendungen - im Bereich des realen Handelns und der Setzung des positiven Rechts. Die vermeintliche Vorrangigkeit der Instanz „des Dinges selbst” - der wirklichen Taten sowie der politischen Praxis - im Verhältnis zur ethischen Theorie soll im Grunde die letztere in ihren absoluten deontologischen Ansprüchen legitimieren. Das Aufeinanderverweisen der ethischen (sc. politischen) Theorie und der praktischen Gewalten konstituiert ein dialektisches Verhältnis der gegenseitigen Legitimierung, das zwischen der praktischen Philosophie und einer zivilisierten ethischen und politischen Praxis besteht, die als aufgeklärt und redlich gelten will. Die Ethik beruft sich ununterbrochen auf das Prinzip des Vorrangs der realen Ordnung (ein wahrhaft redliches Handeln erfordert nicht nur eine intellektuelle ethische Kultur, sondern auch guten Willen, Tugend, Gewissen, recta ratio), während sich aufgeklärte Menschen und Politiker alltäglich formaler ethischer Begriffe, wie Gerechtigkeit oder Pflicht bedienen. Die hier angewandten Begriffe der streng realen Instanz, des praktischen „Dinges selbst” sind vor allem das Gewissen (als ein reales Vermögen, in konkretem Handeln Normen zu beachten), guter Wille (allgemeine Disposition zum Wohltun und zum pflichtgemäßen Handeln) sowie die Rechtschaffenheit (als die gegenwärtig tragfähigste Bestimmung der Tugend im integralen Sinne).

Im Gebrauch sind aber auch andere Begriffe, insbesondere im Bereich des politischen Diskurses, in dem aus selbstverständlichen Gründen das rein theoretische Element stärker zum Ausdruck kommt. Am wichtigsten ist hier der Begriff der Demokratie, der in der Theorie ursprünglich einen formalen Sinn hat und einige Bezeichnungen für formale Verhältnisse umfaßt, wie zum Beispiel das Austragen von Streitigkeiten auf dem Wege einer öffentlichen Debatte unter Wahrung gleicher Chancen aller Parteien oder die das Gleichheitsprinzip beachtende Prozedur der Wahl von Regierenden und der Begriff der Macht als Delegation und Vertretung.

Ein anderer politischer Begriff offenbar formaler Natur, der zugleich aber mit der Absicht gebraucht wird, den Vorrang der politischen Praxis hervorzuheben, ist der Begriff der Freiheit. Die Freiheit, formal als regulative Idee der Selbstherrschaft eines vernünftigen Wesens bestimmt,  wird von der ethischen Theorie gleichzeitig auf der Seite der Realität situiert, und zwar als Bestimmung der Subjektrealität (der tatsächliche Grad der Fähigkeit des Menschen, über sich selbst zu entscheiden) sowie der politischen Wirklichkeit (die wirkliche Fähigkeit der politischen Subjekte zur Selbstbestimmung - von politischen Rechten des Einzelnen an bis zur Souveränität von Staaten und Völkern). Eine alltägliche Praxis im Leben freier Gesellschaften ist es dabei, sich auf den formalen Begriff der Freiheit zu berufen. Daher rühren auch gewisse Merkmale liberaler Gesellschaften in ihrer Abhängigkeit von Funktionen des formalistischen ethischen Diskurses: Konsensualismus, Prozeduralismus, Kontraktualismus ihrer politischen Verhältnisse. Ein ständiges Selbstidentifizieren und dann das ständige Entdecken der Diskrepanz zwischen der wirklichen Richtigkeit und der öffentlichen Einwilligung, zwischen Gerechtigkeit und Legalität auf der einen und dem Ergebnis einer konsequent beachteten legalen und formal gerechten  Prozedur auf der anderen Seite, und am Ende zwischen Gerechtigkeit und Vertragsgerechtheit - diese zwei einander entgegengesetzten Prozesse bestimmen den dialektischen Rhythmus der von der politischen Theorie unterstützten Verhältnisse - und zwar sowohl im Athen Platos als auch im neuzeitigen Europa und Amerika.

Diese Dialektik war lange Zeit lebhaft und fruchtbar. Heute ist sie aber routinemäßig und leer geworden. Zum Fundament hat sie nämlich eine Projektion von episthemischen (heuristischen) Ansprüchen der praktischen Philosophie auf deren Domäne - Moral und Politik. Es sind die Ansprüche auf eine letztgültige Legitimität. Die praktische Philosophie will sie aus der transzendentalen Geste schöpfen, die die Praxis (guten Willen, Gewissen, Tugend) zur letzten Instanz der Richtigkeit erhebt, sowie - selbstverständlich - aus dem Grundsatz selbst, dem zufolge das, was formal (resp. transzendental) zum Legitimen  proklamiert worden ist, auch wirklich legitim wird. Die Philosophie zwingt dadurch leider der zivilisierten Moral- und politischen Praxis das Prinzip der letztgültigen Legitimierung auf. Einer solchen Beglaubigung der politischen Praxis dient natürlich auch eine formale, sich selbst legitimierende ethische und politische Theorie. Was bedeutet die gegenseitige Legitimierung der Theorie und der politischen Praxis für die westliche Welt? Sie bedeutet, daß sowohl Philosophie als auch Politiker eine volle Verantwortung von sich abwerfen - jene für ihre Worte, diese für ihre Taten.

jot@ka