Wesenhafter Formalismus der praktischen Philosophie
[Erschien als„Wesenhafter Formalismus der praktischen
Philosophie”, Synthesis Philosophica 26-27 (1-2/1999), ss. 235-245.]
Im folgenden setze
ich mir zum Ziel, einige Beispiele aus dem Bereich der Heurese der praktischen
Philosophie anzuführen, die die notorische Abhängigkeit der Spekulation in
diesem Gebiet von formalistischen, prozeduralen oder - allgemeiner gesagt -
transzendentalisierenden Bestimmungen und logischen Figuren veranschaulichen
würden. Die Aufgabe jener Bestimmungen und Figuren ist es, ethischen und
politischen Theorien eine letztgültige Begründung zu liefern, und zwar unter
Berufung auf eine materielle Ordnung, eine Moralpraxis als souveräne Instanz, in
der sich wirklich das Gute und das Böse vollziehen. Die aufgeklärte Moral und
politische Praxis übernehmen wiederum von der Theorie einen allgemeinen
Legitimierungsimperativ und nutzen zu diesem Zweck gerade jene von der
praktischen Philosophie gelieferten formalen Begriffe. Mit anderen Worten:
Philosophie beruft sich auf die Instanz der Praxis, während sich die Praxis in
philosophische Begriffe flüchtet.
Praktische Philosophie wird im umgangssprachlichen Sinne als eine Art Erkenntnis
verstanden, die der Tugend und Gerechtigkeit dient - als in der Erkenntnis
liegendes Gut, das zu einem anderen, außerhalb der Grenzen der Erkenntnis
liegenden führt.
Praktische Philosophie ist schon im Ausgangspunkt als eine sich selbst
bestimmende definiert, die durch jene Selbstbestimmung auch ihre
Selbstbegründung und Selbslegitimierung vollzieht. Mehr noch: Jene Bestimmung
der praktischen Philosophie als eines Bereiches, der sich durch
Selbstlegitimierung begründet, entscheidet darüber, daß praktische Philosophie
im allgemeinen zum legitimierenden Denken wird, und - indem sie ihre
eigene Bestimmung auch auf ihren Gegenstand überträgt - zu einem Denken, das zum
Prinzip der Legitimität überall seine Negativität erhebt - das Geschehen,
die Praxis. Daher auch jene in der Ethik und der Politik vorhandene, nicht zu
beseitigende Spannung zwischen ihrem wesenhaft eigenen formalen Gehalt und dem
heterogenen empirischen, materiellen Gehalt, der sich einer apodiktischen
Erfassung entzieht.
Denn eine spekulative Bestimmung der praktischen Philosophie lautet so: theoretische
Erkenntnis, die in ihrer Negativität (d.h. in der Praxis) Folgen bewirkt,
und gleichzeitig aus dieser Negativität ihre Legitimität schöpft. Jenes
Folgenbewirken der praktischen Philosophie ist wiederum formal bestimmt - als „Einem-Zweck-Dienen”.
Auf der Ebene der Verstandsbestimmungen könnte man sagen, daß die praktische
Philosophie dazu berufen ist, durch die Erkenntnis der Wahrheit darüber, was das
Gute ist, einen Beitrag zu dessen Erzielung zu leisten - eben darauf gründet
sich auch ihre Gültigkeit und Nützlichkeit. Das Prinzip jener Gültigkeit
der Ethik und Politik ist somit die Tatsache, daß sie den Einzelnen an Tugend
und die Gemeinschaft an Gerechtigkeit reicher machen.
Ohne diese Selbstbestimmung, die auf die sokratische Tradition zurückgeht und in der
klassischen Ethik - einschließlich der Kantschen - nie bestritten wurde, wäre
weder eine wirkliche historische Legitimierung der ethischen oder politischen
Erziehungsarbeit, noch der Anspruch der praktischen Philosophie auf eine
Regelung des individuellen und des öffentlichen Lebens möglich.
Die Möglichkeit der oben angegebenen Bestimmung gründet sich auf eine Unterscheidung
zwischen dem eigenen Bereich der Vernunftherrschaft - einem Theoriebereich, wo
die Vernunft ein souveräner Geber von Bestimmungen und ein Selbstzweck bleibt -
und dem Bereich der Vernunftanwendung, in dem die Vernunft ursprünglich
nicht zu Hause ist und den sie sich erst untertan machen muß. Eine
nicht zu beseitigende Grundlage der praktischen Philosophie ist daher die
Einsicht, daß ihr eigentliches, d.h. praktisches Ziel die Begründung der
Vernunftherrschaft im Menschen ist, die Unterwerfung seines Willens unter die
Lenkung der Vernuft, und damit eine Verwirklichung des Menschseins als Berufung
zum Sieg seiner wesenhaft höchsten Gewalt - der Vernunft. Daraus ergibt sich,
daß jenes Praktische - im Sinne der Anwendung der Vernunft auf deren
Negativität, das Handeln - in die Bemühung übergeht, die Herrschaft
der theoretischen Vernunft auszudehnen und für ihn mittels der Ideale
(der formalen Ideen des Zieles/desGuten, d.h. der Ideen der Tugend, des Glücks
usw.) einen besonderen Herrschaftsbereich (oder eigentlich „Anwendungsbereich”)
zu beanspruchen, der dann praktische Vernunft heißt und - vereinfachend
ausgedrückt - in solchen Begriffen erfaßt wird wie vernünftiger Wille, Moral
oder Glaube. Zum Ziel der Vernunft wird hier ein regulativer Grundsatz, der
ursprünglich für ihre Negativität (das Handeln) aufgestellt wurde - d.h. das
Gute. Die formale regulative Idee der Vernunft im allgemeinen - die Wahrheit -
erfährt hier eine Modifikation, indem eine besondere regulative Idee für ihren
„zweiten”, negativen, Herrschaftsbereich - das Handeln statuiert wird. Diese
Idee ist eben das Gute.
Kurz gesagt: Das Postulat der praktischen Philosophie ist es, das Handeln
(individuelle Aktivitäten und öffentliches Leben) zum Bereich von rationellen
Bestimmungen zu machen. Durch dieses Postulat bestimmt sich die praktische
Philosophie selbst als eine, die, ertsens, legitim den Namen des Denkens (der
Wissenschaft) beansprucht, und zweitens, sich zum Grundsatz ihrer Aktivität
setzt, den Imperativ der Erzielung des Guten zu formulieren und eventuell auch
materielle Umrisse des Guten anschaulich zu machen, und zwar in Gestalt von
wenigstens zum Teil empirischen, positiven Hinweisen, die sich auf den Gehalt
der Tugenden oder gar auf den materiellen Gehalt lobenswerter Taten beziehen
würden. Der Normativismus der praktischen Philosophie, (der durch sie selbst in
der Bestimmung ihres Bereiches als Domäne von Pflicht, Soll und Gesetz, oder,
allgemein gesagt, des kategorischen Imperativs ausgedrückt wird), ist also eine
Folge ihres Initialschrittes, durch den sie ihren Sinn als Wissenschaft
stiftet, das heißt sich selbst legitimiert. Alle ihre Ansprüche innerhalb
der Ethik und des politischen Diskurses sind Derivate jener ersten Entscheidung,
mit der man das Gute, den formalen Imperativ „man soll Gutes tun” aufstellt (bonum
faciendum, malum vitandum) und das Recht der Ethik auf Existenz und Ausübung
ihrer Herrschaftsfunktion im individuellen und politischen Leben als Folge des
formalen Rechts und der formalen Pflicht bestimmt, dem Guten zu dienen. Da das
Gute eher oder später in Kategorien des Absoluten bestimmt werden muß, muß auch
eine selbstbegründende Ethik, die dann ihren Legitimitätsanspruch auch auf den
Anspruch auf eine allumfassende Herrschaft im Bereich des Handelns überträgt,
ihren Höhepunkt in der Theologie finden, in der Erstreckung des
Gültigkeitsanspruchs der Vernunft auf den Glauben und die Anbetung des
Absoluten, und damit auch in einer Vereinigung der Moral (als Anerekennung des
Guten überhaupt) mit dem Glauben (als Anerkennung des höchsten Guten).
Transzendentale Verwurzelung der praktischen Philosophie als solcher, in ihrer
Ursprungsbestimmung vollzogen, ist für die gesamte Tradition der klassischen
Moralphilosophie und Philosophie der Politik schlechthin verbindlich, ohne
lediglich eine „Kant-Interpretation” und umso weniger eine Leistung Kants selbst
darzustellen. Kant hat nur in vollkomeneren Begriffen erfaßt, was eine
Wirklichkeit der praktischen Vernunft bildet und was möglicherweise schon galt,
bevor die formale Verpflichtung zur Tugend (das Gute als Ziel des Innenlebens)
und zur Gerechtigkeit (das Gute als Ziel des Handelns) von Sokrates bestimmt
worden ist.
Gerade die Tugend als regulatives Doppelprinzip - für das Ich als jene Instanz, die die
Herrschaft der Vernuft über den Willen einsetzt - sowie für seine Negativität -
als ein Prinzip, das die Urheberschaft des Ichs in der objektiven Wirklichkeit
als dem Endziel (dem Guten) gemäß qualifiziert - stellt das transzendentale
Hauptmoment der diskursiven Praxis der klassischen Moralistik dar. Da das
formale Moment der Tugend in der klassischen Ethik im Begriff der Gerechtigkeit
erfaßt ist (jede Tugend ist ein Erscheinungsbild der Gerechtigkeit und die
Tugend als solche ist Gerechtigkeit schlechthin), während Gerechtigkeit als
Tugend (schlechthin) oder eine der Tugenden bezeichnet wird, den regulativen und
den transzendentalisierenden Begriff der Gerechtigkeit besprechen wir hier
zusammen mit dem Begriff der Tugend.
Tugend, im moralischen Sinne, heißt:
1. Vollkommenheit des denkenden und über seine Urheberschaft - das heißt, über das Handeln
(seines) Menschen - vernunftmäßig (souverän) entscheidenden Ichs. Es ist die
Tugend im Sinne einer regulativen Idee des Innenlebens; kategorial wird sie
dabei nicht substanziell sondern formal bestimmt: und zwar als Harmonie
der Gewalten des Subjekts im Hinblick auf eine Einheit seines Zieles.
2. Ein Korrelat des immanenten (subjektiven) Tugendbegriffes, das diesem Begriff ein wirkliches
Dasein verleiht, ist ein objektiver Begriff der Tugend, verstanden als reales
Vermögen, Gutes zu tun. Er nimmt zwei Gestalten an. Zum ersten: er ist ein
objektives Korrelat des subjektiven Tugendbegriffes und kennzeichnet eine reale
Fähigkeit zum guten Handeln schlechthin; es ist eine objektive Integraltugend -
des Weisen, des Tugendritters, des gerechten Mannes - die als regulative Idee
(ein Ideal) im wirklichen Modus dient, das heißt, sie wird in Gestalt eines
idealisierten personhaften Musterbeispiels vorgeführt, und mitunter auch an eine
bestimmte Person von absoluter Moralautorität (den Heiligen) gebunden. In diesem
Sinne bezeichnet man die Tugend als Gerechtigkeit (z.B. in dem oben erwähnten
Begriff des „gerechten Mannes”). Zum zweiten: der objektive Tugendbegriff
bezieht sich auf aspektgebundene einzelne Erscheinungsbilder der Tugend
schlechthin. Dann bedeutet die Tugend eine wirkliche Fähigkeit, in einem Bereich
richtig zu handeln, das heißt unter Berücksichtigung einzelner Handelnsgewalten
oder verschiedener Arten des Guten, die das Handeln betreffen kann. Diese
„wirkliche Fähigkeit” ist eine lebhafte, reale Potentialität, das heißt, eine
anerzogene Gewohnheit.
Im abgeleiteten Sinne bezeichnet man als „Tugend” den Willen, immer besser zu
werden, einzelne objektive Tugenden sowie die Tugend schlechthin in sich selbst
herauszubilden und sein ganzes Leben dem Vernunftprinzip, das heißt, der
subjektiven Tugend unterzuordnen. Mit anderen Worten: schon das Trachten nach
Tugend oder Tugenden, ein auf Ideale ausgerichtetes Leben nennt man mitunter
„Tugend”.
3. Objektive Tugend, als Ideal der Tugend hingestellt, gewinnt aus der Perspektive der
Urteilskraft - das heißt, als Gegenstand von Zuneigung und Liebe einen
selbständigen und besonderen Sinn. Die Tugend kommt hier nicht als Pflicht zur
Erscheinung, sondern als ein Gut, an dem man Gefallen findet. In der allgemeinen
Gestalt wird die Tugend als morale und metaphysische Schönheit der Heiligkeit
affirmiert, während die subjektive Tugend als Schönheit des Charakters und der
von ihm vollbrachten Taten ihre Affirmation findet.
Die Tugend im subjektiven Sinne ist rein formal, und zwar teleologisch bestimmt. Sie
ist Vollkommenheit (Ziel) eines vernünftigen Lebens. Die Anerkennung der Tugend
ist transzendental nötig als Voraussetzung für die Möglichkeit, das lebendige
(handelnde) Ich als vernünftig zu erachten. Denn die Vernünftigkeit erzwingt
eine Bestimmung auf das das Ziel hin. Dieses Ziel heißt Tugend.
Die Tugend im objektiven Sinne ist auch formal bestimmt, auch wenn dies schwerer zu
bemerken ist. Man könnte meinen, daß der Begriff „reales Vermögen, Gutes zu tun”
etwas materiell Wirkliches statuiert. Diese Statuierung geht indessen nicht über
die Grenzen der Potentialität, das heißt etwas Formalen, hinaus. In dem Begriff
der Tugend als anerzogener Disposition zum guten Handeln in einem Bereich läßt
man etwas Formales (nämlich die Disposition als logisch nötiges Proprium
seiner Verwirklichung: wenn etwas da ist, muß es früher auch möglich
gewesen sein) zu etwas Wirklichem werden (wenn sich etwas vollzogen hat, erweist
sich dessen Möglichkeit als wirklich). Es ist allerdings nur eine formale
Statuierung; die Tugend im subjektiven Sinne ist nur ein formales,
transzendentales Postulat, eine Voraussetzung für die Möglichkeit, gewisse Taten
als gut zu erachten, und zwar nicht als zufällig gut, sondern als gut in
Rücksicht auf das Gute des Täters - eben jenes Gute wird als Tugend bezeichnet.
Zum Ideal sublimiert, ist die objektive Tugend wieder eine formale teleologische
Bestimmung, und genauer, ein Muster des Handelns oder eine allgemeine regulative
Idee als „Standarte der Tugend”. Diese birgt in sich keinen anderen Gehalt als
den postulierten, einen, der sich durch sich selbst legitimiert und durch sich
selbst eine Bürgschaft für seine Gültigkeit als Ideal bildet. Umso mehr betrifft
diese Selbstlegitimierung auch ästhetisiertes Ideal der Tugend als Objekt, an
dem man Gefallen findet.
In jedem Sinne ist die Gütligkeit der Tugend transzendental statuiert:
teleologisch, postulativ, als Ideal, regulative Idee oder als Muster. Die
Wirklichkeit der Tugend geht dabei nicht über die transzendentale Garantie der
Gültigkeit hinaus. Dies bedeutet, daß die normative und ästimative Herrschaft
der praktischen Vernunft über das Handeln einen usurpatorischen Charakter hat.
Denn sie ist im Grunde postulativ und konstitutiv (die praktische Vernunft setzt
die Moral als Bereich der Verpflichtung ein). Die Absolutheit der Gültigkeit
dessen, was als Geltendes existiert - der konkreten Pflicht und der allgemeinen
Norm, wiewohl zweifellos und gegen die Frage gefeit: „warum gilt die Moral
überhaupt?”, erfordert doch eine absolute Begründung. Die konstitutive Kraft der
praktischen Vernunft, die als empirisches philosophisches Gemüt wirkt, indem sie
transzendentale Begriffe der Tugend und der Pflicht bestimmt, ist
selbstverständlich keine absolute Instanz. Deshalb kann weder die Moral, noch
die jene Moral einsetzende Vernunft ohne ein absolutes Prinzip der moralischen
Ordnung auskommen, das heißt, ohne Bestimmung der Pflicht als Gottes Gesetz.
Leider ist die Statuierung einer Wirklichkeit Gottes noch ein Akt der
konstitutiven praktischen Vernunft, ein Postulat, das die transzendentalen
Bedingungen allen Sinnes und aller Vernünftigkeit der Ansprüche vom menschlichen
Dasein überhaupt bestimmt - der Ansprüche auf eine verbindliche Erkenntnis und
einen Lebenssinn schlechthin. Die praktische Vernunft kann also sich selbst nur
vortäuschen, daß sie nicht die einzige Quelle der Moral ist, sondern daß die
Pflicht in einer der Vernunft gegenüber transzendenten Instanz ihren Ursprung
hat. Es ist vielmehr der menschliche Wille, der sich in seiner allgemein
gesetzgebenden Tätigkeit als gut bestimmt, und nicht, wie es Kant postuliert,
der Wille sei, soweit er auch gut sei, allgemein gesetzgebend.
Die subjektive Tugend bestimmt auch die Pflicht des Menschen seiner eigenen
Wesenheit gegenüber: du sollst, deiner Natur entsprechend, möglichst gut werden.
Als objektive Pflicht zu tun, was gut ist, und ein Mensch zu werden, der Gutes
tut, wird die objektive Tugend manchmal Gerechtigkeit genannt. Denn
Gerechtigkeit heißt eine Gebührlichkeit, eine rein formale
Übereinstimmung dessen, was ist, mit dem, wie es sein soll.
Als ein Modus des Tugendbegriffes nimmt die Gerechtigkeit die Gestalt des Prinzips einer
Synthese von einzelnen subjektiven Tugenden an, des Prinzips, nach dem eine mit
Tugenden ausgestattete Wesenheit dem Guten (dem Wohltun) untergeordnet wird.
Deshalb bezeichnet man die Gerechtigkeit als einen Knoten von Tugenden oder
Tugend der Tugenden, das heißt ein allgemeines Principium (einen
Imperativ) des Wohltuns. Dasselbe formale Prinzip, als etwas Wirkliches
dargestellt - als wirkliche Disposition des Subjekts zum Wohltun - wird mitunter
als Liebe (caritas) oder als guter Wille bezeichnet.
Eine formale Bestimmung der Gerechtigkeit als Gebührlichkeit kommt in allen
Tugendbegriffen zum Ausdruck. Denn alle Tugenden sind Momente einer allgemeinen
objektiven Tugend - der Gerechtigkeit. Ein apriorischer Formalismus, eine
Postulativität der Tugendbestimmungen sind geradezu offensichtlich. Dieser
Formalismus besteht in jedem Fall in einem dialektischen Verhältnis zwischen der
Superlativität des Sollens und dem „lediglich” angemessenen Charakter des
Gebührenden. Das Gute als das Gebührende wird daher nach zwei formalen
Prinzipien bestimmt: der Superlativität als höchstem Maß des Guten und der
Angemessenheit als dem eigentlichen Maß des Guten.
Es sei hier auch auf den Formalismus des Begriffes „Gerechtigkeit” im Sinne
„Einzeltugend” hingewiesen. Sie besteht in einer realen Disposition, jedem, was
ihm mit Recht gebührt, abzugeben. „Mit Recht” heißt hier nichts anderes als
„gerecht”. Gerechtigkeit ist also das Vermögen, in Distribution und Austausch
von Gütern gerecht zu sein. Mit anderen Worten: das Vermögen, in diesem Bereich
das Beste zu tun, was in diesem Falle in der Findung des richtigen Maßes
(des Maßes der mitgeteilten Gütern) besteht. Diese Bestimmungen haben einen so
sehr formalen, postulativen Charakter, daß sie sich auf den apriorische
Grundsatz bringen lassen, dem zufolge die Mitteilung von Gütern besser oder
schlechter sein kann; daraus resultiert, daß es eine vollkommene Gestalt jener
Mitteilung existiert - eben diese vollkommene Gestalt nennt man Gerechtigkeit.
Der extreme Formalismus des klassischen Gerechtigkeitsbegriffes beraubt ihn
sogar seines kriteriologischen Wertes, mit Ausnahme eines formalen Momentes, das
mitunter eine materielle Widerspiegelung besitzt. Es ist das Moment des
Ausgleichs, das einen Modelfall der Gerechtigkeit statuiert, wo eine gleiche
Verteilung von Gütern unter einander Gleiche, das heißt gleiche Behandlung
Verdienende, zustande kommt.
Wieso kann sich eine formale Bestimmung der Tugenden, darunter auch der
Gerechtigkeit, überhaupt erhalten? Der Grund dafür ist die Tatsache, daß je
formaler eine Bestimmung ist, desto stärker sie auch an etwas materiell
Wirkliches als deren Negativität appeliert. Eine solche materielle Wirklichkeit
ist im hier gegebenen Fall die durch keine diskursiven Kriterien und Prozeduren
zu ersetzende Kunst, gerecht zu sein, ein reales Vermögen des Subjekts,
Gutes zu tun. Der Formalismus der Gerechtigkeit ist nur durch ein ständiges
Hervorheben der Tatsache möglich, daß die Tugend etwas Reales ist, ein reales
Vermögen, Gutes zu tun, das sich nicht durch ein prozedurales Wissen darüber
ersetzen läßt, wie man sich in einzelnen abstrakt definierten Situationen
verhalten soll.
Einen rein formalen Charakter hat auch die Bestimmung der Tugend der Weisheit, die
eine Fähigkeit bedeutet, sich im Handeln durch die Vernunft leiten zu lassen,
das ist, ein allgemeines volitiv-intellektuelles Vermögen. Ähnlich sieht es im
Falle der Tugend des Maßhaltens aus, deren Name selbst schon auf das formale
Moment der Vollkommenheit als Fähigkeit, richtiges Maß (im Genuß) zu halten,
hindeutet.
Da die Tugend eine postulative, formale Bestimmung der realen Fähigkeit ist, im Handeln
jeweils ein richtiges Maß zu halten, entsprechen in der klassischen Aretologie
jeder Tugend zwei Arten der Verletzung jenes richtigen Maßes: Mangel und
Überschuß. Nichts drückt so deutlich und sentenziös den Formalismus des
Tugenbegriffes aus wie die Feststellung, daß die Tugend jeweils eine „goldene
Mitte” zwischen zwei Lastern sei.
Die ethische Fassung des Gerechtigkeitsbegriffes bestimmt auch dessen politische
Fassung. Dies vollzieht sich mittels jener schon erwähnten Idee des Ausgleichs.
Im politischen Diskurs gilt die Voraussetzung, daß der wirkliche Verdienst der
politischen Subjekte, insbesondere der einzelnen Bürger, der diese zu einem
proportionalen Anteil an der Güterverteilung berechtigt, unbekannt bleibe;
genauer gesagt: niemand sei dazu berechtigt, diesen Verdienst autoritativ
festzusetzen. In der Folge wird der proportionale Anteil negativ durch einen
gleichen ersetzt, der in Anbetracht der Tatsache, daß niemand weiß, wem was
wirklich gebührt, zu einem Surrogat der Gerechtigkeit wird. Eine positive
Grundlage für die politische Regel der Gleichstellung von Subjekten ist
gewöhnlich die formale Bestimmung jener Subjekte, besonders einzelner Bürger als
gleich, und zwar auf Grund der sie alle verbindenden Menschlichkeit sowie eines
einheitlichen politischen Aktes, der allen Subjekten (Bürgern) denselben (also
auch den gleichen) politischen Status der politischen Subjekte eines Staates
verleiht (kontitutionelle Gleichheit).
Gerechtigkeit als Gleichheit hat einen rein formalen Charakter, und doch wird
sie von den meisten als ein positiver Begriff angesehen. Denn sie bedeutet - in
gesetzlicher Dimension - eine Garantie: erstens, eine Garantie gleicher
politischer Rechte (was aus psychologischen Gründen als eine Art Privileg
begriffen wird), und zweitens, Garantie eines indisktiminativen Charakters von
dem Recht.
Sowohl die Ethik, als auch die politische Philosophie (besonders dann, wenn sie das Gebiet des
öffentlichen Seins betreten, wozu sie sich auf Grund der Definition selbst
berufen) nutzen auf Schritt und Tritt das dialektische Verhältnis des formalen
Wesens ihrer Bestimmungen - Definitionen, Normen und Postulate - zur materiellen
Konkretheit ihrer Anwendungen - im Bereich des realen Handelns und der Setzung
des positiven Rechts. Die vermeintliche Vorrangigkeit der Instanz „des Dinges
selbst” - der wirklichen Taten sowie der politischen Praxis - im Verhältnis zur
ethischen Theorie soll im Grunde die letztere in ihren absoluten deontologischen
Ansprüchen legitimieren. Das Aufeinanderverweisen der ethischen (sc.
politischen) Theorie und der praktischen Gewalten konstituiert ein dialektisches
Verhältnis der gegenseitigen Legitimierung, das zwischen der praktischen
Philosophie und einer zivilisierten ethischen und politischen Praxis besteht,
die als aufgeklärt und redlich gelten will. Die Ethik beruft sich ununterbrochen
auf das Prinzip des Vorrangs der realen Ordnung (ein wahrhaft redliches Handeln
erfordert nicht nur eine intellektuelle ethische Kultur, sondern auch guten
Willen, Tugend, Gewissen, recta ratio), während sich aufgeklärte Menschen und
Politiker alltäglich formaler ethischer Begriffe, wie Gerechtigkeit oder Pflicht
bedienen. Die hier angewandten Begriffe der streng realen Instanz, des
praktischen „Dinges selbst” sind vor allem das Gewissen (als ein reales
Vermögen, in konkretem Handeln Normen zu beachten), guter Wille (allgemeine
Disposition zum Wohltun und zum pflichtgemäßen Handeln) sowie die
Rechtschaffenheit (als die gegenwärtig tragfähigste Bestimmung der Tugend im
integralen Sinne).
Im Gebrauch sind aber auch andere Begriffe, insbesondere im Bereich des politischen
Diskurses, in dem aus selbstverständlichen Gründen das rein theoretische Element
stärker zum Ausdruck kommt. Am wichtigsten ist hier der Begriff der Demokratie,
der in der Theorie ursprünglich einen formalen Sinn hat und einige Bezeichnungen
für formale Verhältnisse umfaßt, wie zum Beispiel das Austragen von
Streitigkeiten auf dem Wege einer öffentlichen Debatte unter Wahrung gleicher
Chancen aller Parteien oder die das Gleichheitsprinzip beachtende Prozedur der
Wahl von Regierenden und der Begriff der Macht als Delegation und Vertretung.
Ein anderer politischer Begriff offenbar formaler Natur, der zugleich aber mit der
Absicht gebraucht wird, den Vorrang der politischen Praxis hervorzuheben,
ist der Begriff der Freiheit. Die Freiheit, formal als regulative Idee der
Selbstherrschaft eines vernünftigen Wesens bestimmt, wird von der ethischen
Theorie gleichzeitig auf der Seite der Realität situiert, und zwar als
Bestimmung der Subjektrealität (der tatsächliche Grad der Fähigkeit des
Menschen, über sich selbst zu entscheiden) sowie der politischen Wirklichkeit
(die wirkliche Fähigkeit der politischen Subjekte zur Selbstbestimmung - von
politischen Rechten des Einzelnen an bis zur Souveränität von Staaten und
Völkern). Eine alltägliche Praxis im Leben freier Gesellschaften ist es dabei,
sich auf den formalen Begriff der Freiheit zu berufen. Daher rühren auch gewisse
Merkmale liberaler Gesellschaften in ihrer Abhängigkeit von Funktionen des
formalistischen ethischen Diskurses: Konsensualismus, Prozeduralismus,
Kontraktualismus ihrer politischen Verhältnisse. Ein ständiges
Selbstidentifizieren und dann das ständige Entdecken der Diskrepanz zwischen der
wirklichen Richtigkeit und der öffentlichen Einwilligung, zwischen Gerechtigkeit
und Legalität auf der einen und dem Ergebnis einer konsequent beachteten legalen
und formal gerechten Prozedur auf der anderen Seite, und am Ende zwischen
Gerechtigkeit und Vertragsgerechtheit - diese zwei einander entgegengesetzten
Prozesse bestimmen den dialektischen Rhythmus der von der politischen Theorie
unterstützten Verhältnisse - und zwar sowohl im Athen Platos als auch im
neuzeitigen Europa und Amerika.
Diese Dialektik war lange Zeit lebhaft und fruchtbar. Heute ist sie aber routinemäßig
und leer geworden. Zum Fundament hat sie nämlich eine Projektion von
episthemischen (heuristischen) Ansprüchen der praktischen Philosophie auf deren
Domäne - Moral und Politik. Es sind die Ansprüche auf eine letztgültige
Legitimität. Die praktische Philosophie will sie aus der transzendentalen Geste
schöpfen, die die Praxis (guten Willen, Gewissen, Tugend) zur letzten Instanz
der Richtigkeit erhebt, sowie - selbstverständlich - aus dem Grundsatz selbst,
dem zufolge das, was formal (resp. transzendental) zum Legitimen proklamiert
worden ist, auch wirklich legitim wird. Die Philosophie zwingt dadurch leider
der zivilisierten Moral- und politischen Praxis das Prinzip der letztgültigen
Legitimierung auf. Einer solchen Beglaubigung der politischen Praxis dient
natürlich auch eine formale, sich selbst legitimierende ethische und politische
Theorie. Was bedeutet die gegenseitige Legitimierung der Theorie und der
politischen Praxis für die westliche Welt? Sie bedeutet, daß sowohl Philosophie
als auch Politiker eine volle Verantwortung von sich abwerfen - jene für
ihre Worte, diese für ihre Taten.
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